Aus dem Leben eines Familienvaters
Prolog Elternabend Blablabla... Kennen Sie das? Wenn sterbenslangweiliges Gelaber in Blabla übergeht? Es gibt nur wenige Menschen, denen ich gerne zuhöre, meiner Frau zum Beispiel. Ihr höre ich gerne zu, nicht lange, aber gerne. Ich sitze in einem nicht klimatisierten Raum mit verschlossenen Fenstern. Der Grund? Der Durchzug! Zu Beginn des Elternabends hatte ich die Fenster geöffnet und sofort tödliche Blicke geerntet. "Im April sollten die Fenster abends geschlossen werden", mahnte Karin Schüler, unsere Elternsprecherin. Wenn ich etwas hasse, dann sind es geschlossene Fenster. Ich brauche dieses Gefühl von frischer Luft, die durch den Raum strömt. Ich sitze hier bereits über 50 Minuten und langsam wird mir übel. Kein Wunder, die Luft ist verbraucht - Mundgeruch vermischt mit einem Hauch Schweiß, so würde ich es beschreiben. Mein letzter Elternabend liegt etwas über acht Jahre zurück. Es war mein Erster und es war die reinste Hölle. Da waren Eltern, die immer noch kurze Fragen hatten, und Eltern, deren Diskussionen ins Uferlose ausarteten. Damals wurde über Fischstäbchen debattiert: Sind Fischstäbchen eine vollwertige Mahlzeit oder doch nur Fastfood? Ich habe keine Ahnung, worüber die Eltern heute in der Grundschule diskutieren. Ehrlich gesagt, möchte ich es auch nicht wissen. Meine Frau geht immer zum Elternabend, freiwillig! Sie ist eine von diesen Supermuttis. Unsere Töchter sind 13, 15 und 17 Jahre jung. Die haben keinen Bock auf Sport, Laufen, Schwimmen oder Radfahren... alles bäh. Wir haben einen 50 Meter langen Garten. 50 Meter lang! Das Ende unseres Gartens kennen meine Töchter nur aus Erzählungen. Die Schule ist 1,3 Kilometer von unserem Haus entfernt. Meine Frau fährt die Kinder jeden Morgen. Warum? Nach 600 Metern kommt eine Steigung! „Das ist keine Steigung, das ist ein Berg“, jammerten meine Töchter im Chor. Damit nicht genug, meine Frau holt die Kleinen auch ab. Auf meine Frage, „Warum?“ antwortet sie: „Wegen der anderen Eltern, irgendwelchen Perversen und was sich sonst noch an Schulen und auf dem Weg nach Hause aufhält.“ Heute musste ich einspringen, Schuld ist meine gehasste Schwiegermutter. Sie ist wohl betrunken vom Barhocker geplumpst. Gegen 17 Uhr meldete sich ihr Mann Franz-Joseph. Weinend erklärte er, dass sie am Kopf genäht wurde und zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben müsse. Meine Frau ist sofort los und gab mir den Auftrag, zum Elternabend zu gehen. Mir gefiel das ganz und gar nicht. Ich habe keinen Bock auf das Gelabere und diese verdammten Stühle, was soll das? Zu meinem Glück scheint es heute interessant zu werden, schnell realisiere ich. Hier sitzen Menschen mit Problemen. Mein Sitznachbar, Torben, leidet unter Putzsucht. Aufgeregt erzählt er von seiner Störung und wie dreckig die Schultoiletten sind. Torbens Worte wandeln sich jedoch in langweiliges Blablabla. Das Summen einer Fliege hatte mittlerweile meine Aufmerksamkeit erregt. Mein Blick wandert durch den Raum. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die sich schnell ablenken lassen. Ich muss auch nicht jedem zuhören. Jetzt weiß ich, wie es meinen Töchtern geht, wenn ich mit ihnen rede und sie nur auf ihr Smartphone starren. Da ist sie. Es ist eine von diesen fetten, ekligen Fliegen. Flink fliegt sie vom übervollen Mülleimer zum Gebäck und landet auf einer Sahnetorte, die ihr Verfallsdatum in meinen Augen schon überschritten hat. Während die Fliege so über die Torte wandert, schleckt sie mal hier und mal dort. Endlich satt, surrt sie in Richtung der Toiletten am Ende des Flures davon. Vorbei die willkommene Ablenkung, jetzt muss ich Torben wieder meine Ohren und Augen schenken. Hätten meine Kinder nur so einen Putzfimmel wie er. Torben ist der Vater von Torsten, einem vierzehnjährigen Emo. "Von heute auf morgen war er nicht mehr wiederzuerkennen", erzählt er mir. "Er trägt Klamotten, die an Punks erinnern, seine Augen sind schwarz umrandet, die Haare weiß wie frisch gefallener Schnee". Ich habe gerade keine Ahnung, was ich darauf erwidern kann oder darf. Torben fummelt sein Smartphone heraus und zeigt mir ein Foto von Torsten. "Krass", zische ich durch meine Lippen. "Ja, und meine Frau meint, das sei normal", flüstert er. Ok, was ist heute normal und was nicht, frage ich mich. Auf dem Foto sehe ich einen Jungen, der komplett schwarze Klamotten trägt. Sein Gesicht ist voll mit Piercings, der Minirock ist extrem kurz, die abstehenden weißen Haare sehe ich als kleinstes Problem. Jetzt ergriff Gabi das Wort. Sie möchte eine Petition ins Leben rufen. Sie ist dafür, dass auf dem Halbjahreszeugnis nicht mehr stehen soll, dass die Versetzung gefährdet sei. "Ja, was soll sonst dastehen?", meldete ich mich zu Wort. Gabi sah in meine Richtung, machte eine kurze Pause und antwortete: "Der Verbleib in der Stufe ist wahrscheinlich!" Ich musste laut lachen und erntete böse wie zustimmende Blicke. Ich hob beschwichtigend meine Hände und sagte: "Hey, freies Land." Damit war der Abend für mich gelaufen, ich gehöre sowieso zur Fraktion der Absitzer. Ich machte meine Notizen und schrieb fleißig das Wichtigste auf. Zwei Stunden später war alles vorbei. Alle stürzten sich auf den von der Fliege markierten Kuchen. Torben und ein Wichtigtuer nahmen mich in die Klammer und bugsierten mich in Richtung Kaffee und Kuchen. Fast zeitgleich blubberten beide auf mich ein. Ich wollte nicht unhöflich sein und spielte mit. Karin, unsere Elternsprecherin, teilte Kaffee aus. Ich griff mir einen Becher und nahm einen Schluck. Angewidert verzog ich mein Gesicht. Torben sah mich erschrocken an und fragte: "Was ist?" "Das Gebräu muss locker von heute Morgen sein." Sie müssen wissen, dass ich vieles hasse, insbesondere alten Kaffee und Menschen, die so etwas servieren. Angewidert kippte ich das Zeug ins Spülbecken und warf den Pappbecher in den Müll. "Na, schmeckt Ihnen mein Kaffee nicht?", fragte Karin, die hinter mir stand. "Das ist kein Kaffee, das ist Plörre", antwortete ich etwas verärgert. "Was wollen Sie damit sagen?", fragte sie. Was ist das für eine Frage?, dachte ich. Und was ist aus "wir können uns duzen" geworden? "Ich möchte damit sagen, dass der Kaffee nicht meinem Geschmack entspricht, liebe Karin." "Für Sie immer noch Frau Karin Schüler", zischte sie mich an. Im Raum wurde es still, alle tuschelten und taten so, als ob sie sich unterhalten. Dabei konzentrierten sich alle auf unser Gespräch. Frau Karin Schüler schien etwas gekränkt zu sein, das hätte ich jetzt nicht erwartet. Sind wir doch mal ehrlich, ist es so schlimm, zu sagen, dass einem etwas nicht schmeckt? Ich meine, wir leben in einer Zeit, in der jeder alles sein darf. Da muss es doch möglich sein, konstruktive Kritik zu äußern. Frau Karin Schüler kletterte etwas unbeholfen auf einen Hocker und ergriff jetzt das Wort: "Hat sonst noch jemand etwas an meinem Kaffee auszusetzen?" Ein leises Brummeln ging um. "Los sagen Sie es schon!" Karin wirkte nervös. "Na ja, wenn Sie so fragen, er schmeckt wie bei Oma", antwortete ein Eltern-Doppelpack im Chor. "Und ist das gut oder schlecht?", wollte ich wissen. "Ähm, wir müssen jetzt aber auch los", sagten die beiden und verließen das Gebäude, ohne sich nochmals umzusehen. Die meisten anderen folgten ihnen. "Da haben sie es mir aber mal so richtig gegeben, was!" Karin hatte Tränen in den Augen. Jetzt mal unter uns, sollte ich lügen und so tun, als ob? Wir sind doch erwachsene Menschen und wie jemandem etwas schmeckt ist eben wie vieles im Leben Geschmackssache. Ich verabschiedete mich und ging. Ich hatte das Schulgelände noch nicht verlassen, da erreichte mich schon die erste WhatsApp von meiner Frau. Drei Fragezeichen und ein vor Wut schnaufendes Emoji sah ich auf dem Display. Ich blieb stehen und schrieb zurück: "War alles in Ordnung? [drei Daumen-hoch-Emojis] bin auf dem Heimweg. Wo bist du? Schrieb ich zum Abschluss. "Ich bin gerade zuhause rein." Drei rote Kopf-Emojis schlossen die Nachricht ab. "Bist du sauer auf deine Mutter?" Ein Emoji mit Monokel und Absenden. "Meine Mutter?" Rote kotzende und schnaufende Emojis überzogen das Display. Warum auf meine Mutter, warum schreibe ich dir wohl? Das Tippen nervt. "In wenigen Minuten bin ich zuhause, dann können wir reden. HDL." Ich sprach ins Smartphone und marschierte weiter. Ich bin gerade im Flur und meine Frau macht mich schon an. "Was hast du getan?" „Hallo Schatz!“, versuche ich die Stimmung etwas zu lösen. "Was habe ich denn getan?" "Du hast den Elternabend ruiniert!" "Der war schon ruiniert, bevor ich kam." "Durch dich ist Karin total verunsichert." "Ist das meine Schuld?" "Natürlich ist das deine Schuld!" Ich atmete tief ein und versuchte, das Thema zu wechseln: "Wie geht es deiner Mutter?" "Sie hat eine leichte Gehirnerschütterung und eine Platzwunde. Der Arzt hat ihr geraten, sich die nächsten Tage zu schonen." "Das tut mir leid. Was ist denn genau passiert?" "Sie ist gestürzt. Sie hatte ein paar Gläser zu viel vom neuen Grappa gekostet." Zur Information: Meine Schwiegereltern betreiben einen italienischen Feinkostladen. Dass sie zu viel von dem neuen Grappa gekostet hat, ist in meinen Augen nur eine Ausrede. "Klingt nicht schön. Und wo ist dein Vater?" "Der ist im Krankenhaus bei ihr." "Wie lange muss sie dortbleiben?" "Das wissen wir noch nicht genau. Es kommt darauf an, wie schnell sie sich erholt." Meine Frau blickte vor sich hin und ergänzte, „Sonntag ist ihr Geburtstag.“ Das habe ich total vergessen... Ich schwieg einen Moment. Dann sagte ich: "Es tut mir wirklich leid. Ich hoffe, es geht ihr bald besser." Meine Frau antwortete nicht sofort. Dann sagte sie: „Glaub nicht, dass ich den Elternabend schon vergessen habe“. Wir gingen in die Küche und setzten uns an den Tisch. Um mein Interesse am Elternabend besser zu heucheln, kramte ich schnell meine Notizen hervor. Geschrieben waren meine Notizen in dem Collegeblock meiner Frau. Es war eins von diesen fetten Teilen, die früher immer von Strebern genutzt wurden. Ein Oxford Collegeblock A5 mit Rand links, 240 Blatt in natürlich Oxford Blue. Während meine Frau sich zum heutigen Eintrag vorkämpfte, machte ich mir einen Kaffee. „Was soll das?“ Ich warf einen Blick über meine rechte Schulter zu ihr herüber, „was?“ „Na das!“ Ihre Finger tippten genervt auf meine Eintragungen. „Mehr gab es nicht“, antwortete ich und schlürfte vorsichtig an meinen Café Americano. „Schatz du hattest nur eine verdammte Aufgabe“. „Und die habe ich erfüllt“, mein Blick wanderte über die eine beschriebene Seite. Ok es war nicht sonderlich voll, das Blatt. Ich hatte nur Stichpunkte aufgeschrieben. Meine Idee war, ich notiere die Punkte und erzähle meiner Frau den Rest. Ich hoffe ihr Männer, unterstützt diese Überlegung!?! „Da stehen fünf Notizen!“ Maulte mein Schatz. „Wie gesagt es gab nicht mehr“, ich grinste verlegen. „Okay und was bitte steht da? Ich kanns nicht lesen“. Ich sah mit mein Gekritzel etwas genauer an und antwortete: „Ich auch nicht“. „Ach Schatz jetzt mach doch nicht so ein Fass auf, du telefonierst doch eh mit deinen Frauen“. „Ja aber ich hätte gerne einen Mann, der den Elternabend ernst nimmt“. Der Drecksroller „Du wirst dich noch wundern Papa, das wirst du.“ Zoe Clain Hallo, ich bin Clark Clain, Vater von drei bezaubernden Töchtern: Nele, 17 Jahre, Zoe, 15 Jahre, und Mia, 13 Jahre. Ich benötige kein Mitleid, ich brauche Liebe und die bekomme ich zum Glück von meiner Frau Enna. Meine Kinder lieben mich sicherlich auch, aber wie Teenager ebenso sind, zeigen sie es nicht immer auf die gleiche Weise wie kleine Kinder. Besonders nah stehen sie mir vor Weihnachten, Ostern, ihren eigenen Geburtstagen, Schulausflügen oder Ferien - in diesen Momenten habe ich das Gefühl, dass sie mich sehr lieben ... Heute ist wieder ein Tag der Liebe im Hause Clain, zumindest aus meiner Sicht. Zoe sieht das jedoch anders. Sie wird morgen 15 Jahre alt und wünscht sich einen Roller zum Geburtstag. Aber nicht irgendeinen Roller, nein, es muss ein Peugeot sein. Ich saß auf der Terrasse und genoss die Frühlingssonne. Wenig später trafen meine Frauen ein. Zoe stürmte auf mich zu, ihre lockigen braunen Haare flogen wild durch die Luft. Sie sah mich an, mit ihren dunklen Augen, und ihr sanfter Blick passt jedoch nicht ganz zu ihrem Charakter. Zoe ist ehrgeizig und äußerst kreativ und genauso stur und eingebildet. Sie hat eine tiefe Leidenschaft für Social Media und ist auf allen möglichen Plattformen zuhause. Sie verbringt ihre gesamte Freizeit damit, irgendwelche Dinge zu posten, und versinkt in ihrer eigenen Welt. „Papa, ich habe es geschafft!“ „Das ist ja toll, mein Schatz“, antwortete ich. Meine Frau und die Kinder waren total aus dem Häuschen. Für mich war das ein Rollerführerschein. Nicht mehr und nicht weniger. Okay, es ist ein weiterer Schritt in Richtung Selbstständigkeit meiner Tochter. Das ist es doch, was wir Eltern wollen, dass unsere Kinder unabhängig werden. Solange ich diese Unabhängigkeit aber finanzieren muss, ist sie nur gefühlt. Zoe hatte ihre Prüfung live auf einem ihrer Kanäle gestreamt, fragen sie mich nicht, wie sie das angestellt hat. Jedenfalls haben etwas über 12k User zugeschaut. Wir saßen am Tisch und feierten den Führerschein mit Zoes Lieblingskuchen Mohnschnitten mit Streusel. Enna erzählte am Tisch das Dirk und Frank gleich vorbeikommen. Die beiden sind ein eigenartiges Paar. „Deren Tochter Anna gibt ihren Roller ab; den können wir für 600 Euro kaufen.“, erzählte Enna. „Die Scheißkiste?“, empörte sich Zoe. „Was soll das denn? Der Roller ist doch gut.“, antwortete ich. „Für dich vielleicht. Ich will einen Peugeot in Blütenweiß.“ „Der kostet 2800 Euro; das bezahlen wir nicht.“, konterten Enna und ich fast gleichzeitig. Bei solchen Dingen sind meine Enna und ich uns einig: Wir geben keine großen Summen für Fahranfänger aus. Der Roller für Zoe oder das Auto für Nele, die in Kürze ihren Führerschein macht, müssen funktionieren. Die Optik spielt eine untergeordnete Rolle. Dirk hatte mir via WhatsApp schon ein Video gesandt. Ich präsentierte das Video im Beisein meiner Töchter. „Den Roller oder keinen“, meldete sich Enna zu Wort. „Nie bekomme ich, was ich will.“ „Du tust ja auch nichts dafür.“ „Ach, ist das so?“, Zoe verschränkte ihre Arme und bedachte uns mit tödlichen Blicken. „Was tust du denn hier?“ „Alles“, schnaubte Zoe. „Was genau ist ‚alles‘, Fräulein?“, meine Frau wurde lauter. „Na, ich bringe den Müll raus.“ „Einmal die Woche.“ „Ich packe meine Wäsche in die Wäschekiste.“, Zoe tippte mit ihrem linken Fuß. „Alle zwei Wochen, und das nur, weil ich dich zwinge. Und mal davon ab: Es ist deine Wäsche.“ „Ich helfe beim Reintragen der Einkäufe.“, Zoes Stimme wanderte um zwei oder mehr Oktaven hoch. „Ohh, verdammt. Wir müssen zum Zahnarzt. Bis später.“ Nele, Mia und meine Frau machten sich auf. Zoe war im Begriff auf ihr Zimmer zu gehen. „Stopp“, sagte ich, „wir sind noch nicht fertig.“ „Zu deinen Einkäufen: Du trägst nur die Süßigkeiten, sonst nichts.“, setzte ich unser Streitgespräch fort. Und was ist mit letzter Woche?“ Zoe grinste überlegen. „Was war letzte Woche?“ „Na da habe ich für Mia und mich gekocht.“ „Gekocht also“, ich nickte mit meinem Kopf. „Ja, gekocht“, wiederholte sie mich und verzog ihr Gesicht, wie eine von diesen Tussen aus dem Fernsehen. Na, diese Realitystars! „Eine Tiefkühlpizza in den Ofen zu schieben, ist nicht kochen.“ „Du bekommst von uns diesen Roller oder keinen.“ „Ist das so?“ „Such dir doch einen Ferienjob und kauf dir selbst diesen Roller für 2.800 Euro.“ „Das werde ich!“ Zoes Gesicht war purpurrot. „Schön, ich freu mich darauf.“ „Du wirst dich noch wundern, Papa, das wirst du.“ „Du auch. Da kannst du mal sehen, wie lange man für 2.800 Euro arbeiten muss.“ Zoe stampfte auf ihr Zimmer. Es klingelte. Dirk und Frank standen vor der Tür – das eigenartige Pärchen. Verstehen Sie mich nicht falsch, mir ist die sexuelle Gesinnung von Menschen egal. Bei den beiden sind wir uns nicht sicher, was genau da läuft. Ich habe Dirk vor circa 20 Jahren übers Zocken kennengelernt. Frank ist mein Ex-Schwager; er war mit einer meiner fünf Schwestern verheiratet. Die vier beschlossen vor etwas über 18 Jahren, ihren großen Tag miteinander zu teilen und taten dies im Rahmen einer traumhaft schönen Doppelhochzeit auf einer Burg in der Eifel. Damals haben sich die Mütter ihre Münder zerrissen und gesagt, dass es Unglück bringt und sich nicht gehört. „Eine Doppelhochzeit? Was für ein Quatsch!“ Kurze Zeit später wurden die vier Pächter eben dieser Burg und betrieben dort ein Restaurant und Hotel. Jahrelang arbeiteten und lebten sie zusammen, teilten alles – sogar das Bett. Niemand kann genau sagen, wer der Vater von Anna ist. Es geschah nach einer Hotelier Messe in München. Meine Schwester und Sandra, die Frau von Dirk, blieben noch eine weitere Nacht, auch als Dirk und Frank nach Hause fuhren. Am folgenden Tag schrieben ihre Frauen über WhatsApp, dass sie nicht zurückkehren würden. Sie hatten nicht einmal den Mut, ihren Männern ins Gesicht zu sehen. Leider ist das ein Übel der heutigen Zeit: Konfrontationen werden vermieden, und alles wird über soziale Medien abgewickelt und mit einem Smiley, Daumenhoch oder Herz Emoji beendet. Sie wollten frei sein und sich von den Zwängen des Alltags lösen. Zwei Jahre später wurde die Scheidung rechtskräftig. Dirk und Frank führten das Geschäft weiter und kümmerten sich um Anna. Jeder in unserem Freundeskreis schimpfte über die beiden Frauen: Wie konnten sie so etwas tun, einfach abhauen und alle zurücklassen? Das arme Kind und die armen Männer, völlig allein. Die Burg liegt in der Eifel, nahe der belgischen Grenze und ist nicht weit von uns entfernt. Wir fuhren des Öfteren mit dem Auto dorthin. Nele und Anna verbindet eine enge Freundschaft. Anna hat Nele erzählt, dass Frank und Dirk in einem Zimmer schlafen, also in einem Bett. Sie haben sich nie geküsst, zumindest nicht, wenn Anna da ist. Die beiden werde ich am Wochenende sehen – vielleicht ergibt sich ja ein Gespräch. Ich öffnete die Haustür und vor mir standen Dirk und Anna. Er ist wirklich gutaussehend und Anna ist ebenfalls eine Schönheit mit langen, lockigen Haaren und einem Gesicht mit großen grünen Augen. Frank kam hinzu, mit kurzen schwarzen Haaren, breiten, trainierten Schultern und einer schlanken Taille. Drei Menschen, die so perfekt sind, dass sie in jedem Werbespot für schöne Autos, Kleidung oder Parfüm auftreten könnten. Der „ekelhafte“ Roller, den Zoe so genannt hatte, befand sich auf der Ladefläche von Franks Pick-up. Der Roller war in einem matten Schwarz gehalten und machte insgesamt einen guten Eindruck. Ich übergab Frank die 600 Euro und gab Anna zusätzlich noch 50 Euro in die Hand. Nach einer Tasse Kaffee und einem kurzen Gespräch verabschiedeten wir uns. „Wir sehen uns morgen zur Party, tschüss.“ Etwas später trafen Anna und Mia wieder ein. Beim Zahnarzt war alles ok. „Das sind mal gute Nachrichten“, sagte ich. Ich bin echt erleichtert. Heutzutage gibt es ja fast keinen Arzttermin ohne Folgekosten. Hier zahlst du das eine und dort jenes. Eh man sich versieht, sind wieder 100 Euro futsch. Nach dem Mittagessen begutachteten wir den „ekelhaften“ Roller. Zoe weigerte sich; sie blieb auf ihrem Zimmer und schmollte. Ich habe ja Verständnis für meine Kinder und andere, die nach mehr streben. Jedoch hat alles seine Grenzen, nur weil ihre Freundin einen blütenweißen Peugeot fahren muss, müssen wir ihr keinen kaufen. Bei den Smartphones ist das leider nicht anders. In Zoes Klasse werden Mitschüler gemobbt, weil sie kein iPhone besitzen. Und die, die ein iPhone haben, mobben sich wegen der Größe oder Version. Wo soll das bitte enden? Ich bin dafür, dass Smartphones an Schulen verboten werden. In meiner Jugendzeit haben sich Schüler gelegentlich geprügelt, und danach war alles wieder in Ordnung. Heutzutage geht es nach der Schule auf den sozialen Medien weiter. Aber was ist daran noch sozial, wenn Kinder sich gegenseitig mobben? Wenn zwei Kinder ein Problem haben, mischen sich alle anderen ein. So wird aus einem Tropfen über Nacht ein Tsunami. Ich glaube nicht, dass wir Eltern verstehen, wie schwer das für einen Jugendlichen sein kann. Zoe, zum Beispiel, hat über 35.000 Follower auf Instagram, was für eine fast 15-Jährige schon eine Menge ist. Diese Anzahl an Followern verleiht ihr eine gewisse Macht. Wer sich mit ihr anlegt, hat es nicht leicht. Viele Mitschüler reden ihr nach dem Mund, um ihre Gunst zu gewinnen. Aber zuhause helfen die Follower nicht, denn hier sind meine Frau und ich das Gesetz. Um 0:00 versammelten wir uns vor Zoes Zimmer und sangen „Happy Birthday“. Schmollend öffnete Madam ihre Zimmertür. Nachdem wir ihr alle gratuliert hatten, übergaben wir ihr noch einen Helm und Handschuhe. Im Anschluss ging es ab ins Bett. Am nächsten Morgen wurde ich gegen sieben Uhr aus meinem Schlaf gerissen. Ein blechernes Geräusch drang vom Garten her an meine Ohren. "Was zur Hölle?", fluchte ich. "Das sind bestimmt die neuen Nachbarn", schwafelte meine Frau im Halbschlaf. "Welche neuen Nachbarn?", fragte ich verwirrt. "Die Kinder von dem Müller", antwortete sie. "Warum ziehen die hierher?", ich verstand die Welt nicht mehr. "Wir haben Samstag, verdammt", fluchte ich genervt. "Ach, lass mich bitte weiter schlafen", murmelt sie und zieht die Decke über ihren Kopf. Das Hämmern und Scheppern störte meine Enna nicht. Das Haus könnte explodieren, die Welt untergehen; sie würde einfach weiter schlafen. Ich versuchte, durch das Fenster etwas zu erkennen, doch bis auf einige Ballons die im Wind davon wehten, war nichts zu sehen. Schnell zog ich mir eine Short und ein T-Shirt an und ging nach unten zum Wohnzimmer. Enna hatte in der letzten Nacht das ganze Haus geschmückt. Ich finde, meine Frau übertreibt es. Über 100 mit Helium gefüllte Ballons schwebten in den Etagen. Luftschlangen und Konfetti zierten das Treppenhaus. Im Wohnzimmer hing ein riesiges HAPPY-BIRTHDAY-BANNER. Zu meiner Überraschung stand die Terrassentür weit offen. Habe ich die gestern Nacht vergessen zu schließen? Das kann nicht sein. Das verdammte Scheppern kam aus einem der Ställe, den ich als Lager nutze. Nele und Mia standen in der Küche und tuschelten leise. "Oh mein Gott" und "Das gibt es nicht", konnte ich noch verstehen, während ich mich auf den Weg machte. „Moin ihr zwei.“ „Hallo Papa.“ „Habt ihr die Terrassentür geöffnet?“ „Nein“, antworteten beide wie ein Chor. Ich ging über die Terrasse in den Garten. Mit jedem Schritt, den ich mich näherte, nahm die Lautstärke zu – das war definitiv mein Lager. Als ich um die Ecke zur Tür ging, hörte ich Zoes Stimme: "So etwas macht man mit einem Drecksroller." Einige Schritte weiter traf mich der Schlag: Das Lager glich einem Drehort für einen Spielfilm. Überall standen Strahler und Kameras, und über Zoe schwebten zwei Drohnen. Sie trug eine GoPro auf ihrem Kopf, um ihren Zerstörungswahn auch aus der Egoperspektive aufzuzeichnen. Sie schlug wie wild mit einem schweren Hammer auf den Drecksroller ein. „Bist du wahnsinnig?“, fragte ich Zoe entsetzt. „Hallo!“ - wiederholte ich mich. Sie beachtete mich nicht einmal und schlug wie eine Wilde mit dem schweren Hammer auf den Drecksroller ein. Ich schrie sie an: „Hast du den Verstand verloren?“ Zoe führte in diesem Moment einen geschickten Schlag gegen den Tank aus. Wie eine Golferin beim Abschlag drehte sie ihren Körper auf, ihre Hände klappten nach hinten. Sie leitete den Abschwung ein; der Hammer traf den Tank des Rollers mit tödlicher Präzision und brachte ihn zum Platzen. Der Roller machte einen Satz in Richtung Lagermitte, Treibstoff spritzte durch die Gegend und ergoss sich auf den glatten Boden. Sie johlte. So hatte ich Zoe noch nie gesehen. Für einen weiteren Augenblick war ich unfähig zu handeln. Der nächste Schlag traf den Scheinwerfer und ließ das Glas förmlich zerplatzen. „Hör sofort damit auf“, schrie ich sie erneut an. Sie holte ein weiteres Mal aus; der Hammer, ein 7,5-Kilo-Teil, schwebte hinter ihrem Rücken. Das war mein Moment. Mit drei raumgreifenden Schritten stand ich neben ihr und riss ihr den Hammer aus den Händen. Sie drehte sich gekonnt von mir weg und sah in die Kamera der Drohne. „Das war's von mir. Ich bin Zoe. Danke für eure Unterstützung. Folgt mir auch auf TikTok und Instagram: #Zoeforever.“ "Bist du verrückt geworden?", zischte ich. Sie war vollkommen außer Atem. Zum Ende ihrer Aufzeichnung sank sie in einen Schneidersitz zu Boden, dabei lächelte sie in die Kamera. Ich hockte neben dem total zerstörten Roller und sah ihr direkt in die Augen. "Was hast du getan?" "Ich habe dir doch gesagt, dass ich diesen Drecksroller nicht will." Ich war entsetzt. "Was glaubst du, wer du bist?" "Wer bist du denn, mir vorzuschreiben, was ich fahre und was nicht?", konterte Zoe. In ihren Augen schwang ein Hauch von Wahnsinn. Ich bin selten sprachlos; hierfür fehlten mir die Worte. Fassungslos saß ich auf meinem Hintern und wusste nicht, wie ich mit der Situation umgehen sollte. "Was ist aus meinem Mädchen geworden?", flüsterte ich. Mittlerweile standen Nele und Mia in der Tür. Ich sah zu ihnen hinüber; Nele schüttelte nur mit ihrem Kopf, Mia schwankte zwischen Bewunderung und Angst. „Mach dir keinen Kopf, ich räume das hier auf.“ „Natürlich räumst du das hier auf, und den Roller bezahlst du auch.“ „Kein Problem“, lächelte Zoe in die Runde. Von meinem Geschrei wurde nun auch Enna angelockt. Mit weit aufgerissenen Augen stand sie da und schaute uns an, zuerst Zoe, danach mich. „Was ist hier los?“ Ihr Blick wanderte von mir hinüber zum Roller, aus dem wie aus einer Wunde der Treibstoff tröpfelte. „Der schöne Roller.“ Enna sah mich fragend an. „Jetzt sieh mich bitte nicht so an, das war Zoe, verdammt.“ Glaubt meine Frau allen Ernstes, dass ich das war? Zoe tippte etwas in ihrem Smartphone. „Warum, Zoe?“ „Was soll das?“ „Papa hat gesagt, ich soll mir den Peugeot selber kaufen und dafür arbeiten.“ „Das verstehe ich nicht.“ Enna schaute zu mir herüber. „Du hast ihr gesagt, sie soll das hier tun?“ „Nein, ich habe gesagt, sie soll das Geld selbst verdienen.“ „Und ihren blütenweißen Roller selber bezahlen.“ „Genau das habe ich heute Morgen getan.“ „Wie, das hast du heute getan?“ Meine Frau und ich sahen uns fragend an. „Wie soll das gehen?“ „Ganz einfach.“ Zoe stemmte ihre Hände in die Hüften und warf uns einen arroganten Blick zu, der sagen sollte: Ihr Tölpel. „Ich habe heute auf Twitch einen Spendenaufruf gestartet.“ „Bitte was?“ „Ich habe über 20.000 Zuschauer auf Twitch; die haben heute Morgen während meines Livestreams 5.288 Euro gezahlt. Und zwar auf mein PayPal-Konto.“ Enna sah erst mich und als Nächstes Zoe an, über ihrem Kopf schwebte ein riesiges Fragezeichen. „Was ist Twitch oder ein Livestream?“ Meine Frau hat es nicht so mit Sozialmedien, sie nutzt WhatsApp und dass viel zu viel. „Aber wie kommst du an ein PayPal-Konto?“ „Wir haben den Kindern vor zwei Jahren eins eingerichtet, um Spielsachen über Ebay verkaufen zu können“, flüsterte ich Enna zu. „Und jetzt machst du was damit?“ „Wie gesagt, ich habe diesen Scheiß-Roller geschrottet und alles live via Twitch gesendet, wie ihr es sagen würdet.“ „Und dieses Geld ist jetzt deins?“ „Ja, so einfach geht das.“ Dabei grinste sie in meine Richtung. „Aber warum der Roller?“ „Ich muss den Zuschauern ja etwas bieten.“ „Das ist doch total krank.“ „Willkommen in der schönen neuen Welt, Mama.“ Zoe, Mia und Nele marschierten ins Haus zurück. Meine Frau und ich sahen uns weiterhin sprachlos an. Am Frühstückstisch schwiegen alle. Zu schwer lag uns dieses Ereignis auf dem Magen. Die Kinder wussten nicht so recht, was sie sagen sollten. Sie wachsen in einer anderen Welt auf. Sowas wie Ferienjobs kennen sie nicht. Warum auch? Wenn mir in meiner Jugend jemand 5000 D-Mark gegeben hätte, nur um zuzusehen, wie ich ein Mofa schrotte, hätte ich es getan. Zoe zückte ihr Smartphone und hielt es Mia hin. Deren Augen wurden größer und größer. „Wooow, über 44.000 Likes!“ Zu unserem Übel schwang in ihrer Stimme so etwas wie Begeisterung mit. "Am Tisch keine Handys", mahnte meine Frau und ergänzte: "In drei Stunden legen wir los." Die Kinder verschwanden auf ihre Zimmer, während Enna und ich den Tisch abräumten. Das ist auch so eine Sache; die Kinder verpissen sich und ich muss mit abräumen. Ich fühlte mich wie in einer Parallelwelt. Hatte ich diese Vorgänge irgendwie verschlafen? Mein eigenes Kind, ein Social-Media-Star, während ich gerade mal auf Linkedin und Xing aktiv war? Ein echter Schlag ins Kontor. Oder vielmehr: Ein Schlag mit dem Hammer. Party, Party, Party "Es ist offensichtlich, dass die jüngere Generation eine andere Einstellung zum Geldverdienen und zur Arbeit hat als wir Älteren" Frank Im letzten Frühling waren wir zu Mias Geburtstag in der Skihalle bei Neuss. Im Nachhinein beschwerten sich einige Eltern bei meiner Frau: „Das wird für die anderen Familien nun schwer, diese Party zu toppen.“ Mir war bis dahin nicht klar, dass es einen Wettbewerb gibt, wer die beste Party feiert. In diesem Jahr feiern wir hier zu Hause in einem der Ställe. Ich habe im zarten Alter von 23 Jahren einen alten, maroden Bauernhof gekauft. Nach über 20 Jahren harter Arbeit sind wir vor sechs Jahren hier eingezogen. Ich habe bis auf Strom und Wasser/Heizung alles selbst gemacht. Jetzt wirft man mir vor, ein Geldsack zu sein. Wir haben eine der Scheuen in eine Disco und ein Kino für die Kids umgewandelt. Am meisten freuen wir uns aber auf den Food Truck. Den haben Frank und Dirk organisiert. Die besten Burger und Pommes im Land, lecker. Es klingelte an der Haustür. Ich öffnete, und vor mir standen Frank, Dirk und Anna. Ihren Blicken nach zu urteilen, hatten sie das Video gesehen. "Hey, schön, euch zu sehen. Kommt rein", begrüßte ich die Drei. Nach der üblichen Begrüßung schlich Anna hinauf zu den Kids. Frank sah mich an: "Was ist denn mit Zoe los?" "Ich weiß es nicht genau; vielleicht sind es die Hormone. Sie ist 15 Jahre alt", antwortete Enna. "Es ist offensichtlich, dass die jüngere Generation eine andere Einstellung zum Geldverdienen und zur Arbeit hat als wir Älteren", erwiderte Frank. "Ja, aber so?" Schüttelte Dieter seinen Kopf. "Es ist doch wichtig, dass wir uns als Gesellschaft bewusst werden, dass es immer noch wichtig ist, für sein Geld hart zu arbeiten!", fuhr Frank fort. "Klar, können wir gerne später besprechen", sagte Enna sichtlich genervt und ergänzte: "Die anderen haben bestimmt auch etwas dazu zu sagen, und ehrlich gesagt, ich habe keine Lust, dieses Thema mit jedem einzeln durchzukauen." Dabei legte sie ihren Kopf nach hinten und verdrehte ihre Augen. "Ich denke jedoch, dass es wichtig ist, dass wir uns mit den unterschiedlichen Einstellungen auseinandersetzen und versuchen, sie zu verstehen", philosophierte Dirk vor sich hin. Enna hörte schon nicht mehr zu und verschwand in Richtung Küche. Die ersten von Zoes Freunden trafen ein, und alle feierten ihren Stream vom heutigen Morgen. Gegen 17 Uhr traf der Food Truck ein. Schon während der Aufbauphase wurde dieser von einigen Teenagern belagert. Um 19 Uhr saßen wir Erwachsenen auf der Terrasse und beobachteten das Treiben im Hof. Etwas über 25 Jugendliche tummelten sich wahlweise im Kino oder in der Disco. Zoe zog mit ihrer Drohne umher und filmte so viel wie möglich. „Das ist voll abgespaced!“ Lobte sie meine Frau und mich. Zuletzt trafen Horst und seine neue Flamme Tamara ein. Wir hatten sie noch nie gesehen, wie auch, die Liebe ist noch frisch. "Wow, sie ist eine Schönheit. Es scheint, als ob Horst sie aus einem Werbeplakat gerissen und zum Leben erweckt hat. Wie in dem Film 'LISA - der helle Wahnsinn.'" "Die passen ja mal gar nicht", flüsterte Enna mir zu. "Vielleicht ist sie ja nett", antwortete ich. "Horst könnte ihr Vater sein", tuschelte Enna und fragte: "Wie alt ist sie?" "Sie ist 27 Jahre alt, Mediengestalterin und seit drei Jahren auf der Suche nach einem Job, der sie erfüllt", antwortete ich. "Du bist gut informiert." Enna tippte etwas in ihr Smartphone, ich warf einen Blick aufs Display. "Ich fasse es nicht, ihr habt eine Tamara-Lästergruppe?" Enna grinste nur und tippte wild drauflos. Verstehen Sie mich nicht falsch, für mich ist WhatsApp das Genialste überhaupt. Fotos, Videos und alles andere können sofort gesendet werden und sind somit perfekt für meine Baustellen. Aber eine Gruppe für alles? Nicht mit mir! Meine Frau ist in sämtlichen WhatsApp-Gruppen vertreten, sogar in der aus der Grundschule. Ich selbst bin in keiner dieser Gruppen, außer in der WhatsApp-Blitzer-und-Raser-Gruppe und in meiner Firmengruppe. Wir haben sogar eine Familiengruppe, in der jeder alles postet. Ich habe vier Brüder, fünf Schwestern und dazu noch den Bruder meiner Frau. Von Oma, Opa und den Kindern will ich gar nicht erst anfangen. In diesen Gruppen werden am laufenden Band Lebensweisheiten von meiner Mutter gepostet, mein Schwiegervater postet langweilige Witze und die Kinder fluten die Gruppe mit ihren GIFs und Memes. Darauf habe ich keinen Bock. Wir begrüßten uns überschwänglich mit Küsschen links und Küsschen rechts. Tamaras Parfüm duftete gut, sie benutzt das Gleiche wie meine Frau. An ihr roch es anders, nicht besser oder schlechter, einfach anders. Aber das ist ja wohl normal. Horst bekommt von mir nur die Gettofaust. Horst ist 57 Jahre jung, wie er immer sagt. Er hat vor kurzem seine vierte Scheidung hinter sich gebracht. Mal unter uns, vier Scheidungen und er macht einfach weiter. Nicht dass die letzten Ehen ohne Kinder abgelaufen wären. Sieben Kinder und die vier Exfrauen kosten eine beachtliche Summe Geld, weshalb er wieder im Haus seiner Eltern lebt. Im Keller, er nennt es Souterrain. Ich will nicht lästern, aber mit 57 zurück zu Mama und Papa? Ist das nicht erbärmlich? Wir haben uns vor 23 Jahren über unsere Frauen kennengelernt. Seitdem versuchen meine Frau und ich, ihn zu mögen. Er macht es einem nicht leicht. Seine Ansichten gehen nicht immer konform mit den meinen. Er hasst queere Menschen und Ausländer. Mir ist die sexuelle Gesinnung oder Herkunft egal. Ich unterscheide zwischen "Arschloch" und "kein Arschloch". Er ist gegen "Fridays for Future" und die sogenannte Verunstaltung der Natur durch Windräder. Ich finde es gut, dass die Jugend etwas unternimmt. Über die Art und Weise kann man streiten… Windräder sind mir lieber als Kohlekraftwerke. Er ist Fan von Bayern München, während ich Borussia Mönchengladbach bevorzuge. Wobei ich ehrlich sagen muss, dass mir der Fußball mittlerweile egal ist. Nachdem er uns alle mit Tamara bekannt gemacht hatte, setzten wir uns wieder auf die Terrasse. Während er so redete, fragte ich mich, warum wir eigentlich noch befreundet sind. Ich betrachte ihn: Er ist groß, 198 cm, sein Kopf fast kahl. Auf seiner Brust wachsen buschige, graue Haare. Sein braungebrannter Bauch hängt über seiner Jeans. Schlimmer noch als sein Bauch ist dieser wackelnde Truthahnhals unter seinem Kopf. Horst ist Architekt und leitet sein eigenes Büro mit 14 Angestellten. Erinnert mich an Angela Merkel, so wie er seine Hände hält. Und ebenso scheint es, als würden Fehler und Vorwürfe an ihm abgleiten wie an einer Teflonpfanne. Ich habe immer abgelehnt, für ihn zu arbeiten. Man sollte niemals für Freunde, Bekannte, Verwandte, Lehrer oder Polizisten bauen. Das ist mein Credo. Mittlerweile waren Ünal, mein bester und ältester Freund, seine Frau Barbara und Buster, mein alleinerziehender Schwager, eingetroffen. Wir saßen satt und zufrieden da, nachdem wir alle diese großartigen Burger gegessen hatten. Alle hatten das Video von Zoe gesehen, und jeder hatte seine eigene Meinung dazu. Das Thema dominierte unseren Abend. Dirk und Frank waren hin- und hergerissen. Sie meinten, der Mensch sei ebenso; jedes Lebewesen suche den einfachsten Weg. "Warum sich anstrengen, wenn es auch bequem geht?" Ünal und Barbara zeigten Verständnis für uns, meinten aber, dass Zoes Weg akzeptabel sei. Buster, der Bruder meiner Frau, fand die Aktion cool und würde sie in Zukunft unterstützen. Er hoffte, dass seine Tochter so etwas ebenfalls machen würde. Horst hingegen sah die Dinge anders. "Clark", sagte er zu mir, "du stammst aus der Arbeiterklasse." Während er meinen Gin trank, fuhr er fort: "Es liegt in deinen Genen, für materielle Dinge zu arbeiten. Warum sollte ich einen Marathon laufen, wenn ich mit einem Auto fahren kann?" Er lachte. Nach ein paar Schritten blieb er stehen, sah in den Nachthimmel und fuhr fort: "Aber es gibt auch Menschen wie mich oder deine Tochter, die anders ticken. Was erhofft ihr euch, wenn Zoe für diesen Roller, sagen wir, zwei Monate arbeiten muss?" "Genau das", antwortete ich. "Was genau?", fragte Horst. "Dass einem nicht alles zugeflogen kommt." "Es gibt Familien, die sich keinen Roller oder andere Dinge für 2800 Euro leisten können", warf Enna ein. "Die hat es immer gegeben und wird es immer geben", erwiderte Horst. Tamara fügte hinzu: "Für eure Tochter war es doch ein Klacks. Wie lange hat sie gebraucht? Eine Stunde?" "So in etwa", antwortete Enna. "Und was sagen ein Sänger, Fußballer, Schauspieler oder Hedgefonds Manager dazu? Die verdienen in einer Stunde Hunderttausende Euro." Verdammt, er hatte recht, dieser… Es war kurz vor 23:00 Uhr, und es war Zeit für eine Sheriffrunde. Meine Frau und ich durchstreiften das Gelände. Währenddessen hingen die meisten Kids im Stall ab, wo der Beamer stand. „Guardians of the Galaxy“ lief, doch fast alle starrten nur auf ihre Smartphones. „Wie kann man sich nur so einen Film ansehen?“, meckerte Enna. Der Foodtruck verabschiedete sich und verließ den Hof, unbeachtet von den Teens. Die ersten Eltern trudelten ein, um ihre Kinder abzuholen. Zoe und Enna verabschiedeten jeden mit einem Handschlag oder einer Ghetto - Faust und einem Giveaway. Ich habe nie verstanden, warum alle beschenkt werden müssen. „Damit sich die anderen Kinder nicht benachteiligt fühlen“, erklärte mir Enna. So ein Quatsch ... Gegen 0:20 Uhr lag ich endlich im Bett. Während ich wartete, stand meine Frau noch unter der Dusche. Wir hatten nicht viel miteinander reden können. Irgendwie hatte ich Lust auf eine Nummer. Daher zog ich mich aus und wartete nackt auf Enna. Ihre Körperpflege dauerte gefühlt ewig. Ich war kurz davor einzuschlafen, als die Badezimmertür sich öffnete. Enna betrat das Schlafzimmer. „Hey Schönheit, was geht?“ „Schatz, das ist echt süß, aber heute bin ich zu platt. Sorry.“ Echt jetzt? Ich liege nackt im Bett, und das findet sie süß? Das ist nicht süß, das ist geil! „Wir hatten vor drei Tagen das letzte Mal Sex, was ist los?“ Das darf ein Mann doch noch fragen, oder? Okay, wenn sie keine Lust hat, dann hat sie eben keine Lust. „Ich bin einfach nur erledigt. Keine Ahnung, ob es am Vollmond liegt.“ Klar, der Vollmond, Pollenflug oder Migräne. Egal. „Ist schon gut“, sagte ich etwas genervt. „Bist du jetzt beleidigt?“ „Nein, es ist okay.“ „Sicher?“ „Wir können ja noch kuscheln.“ „Okay.“ Enna rückte ganz nah an mich heran und streifte unabsichtlich mit ihrer kalten Hand meinen steifen Penis, ok das wars er zog sich zurück. „Oh, der Kleine ist auch ganz müde.“ Kein Wunder, ihre Hände sind kälter als der Tot. Enna hauchte mir ins Ohr : „Soll ich dir einen blasen?“ Gute Nacht. „Nach dem Regen in die Traufe …“ „An Sahne kommt immer ein Stich Salz.“ Schwiegermutter Buster, der Bruder meiner Frau, hatte auf Zoes Geburtstag etwas zu verkünden: „Leute, ich habe mir einen Campingplatz gekauft.“ „Was machst du mit einem Campingplatz?“, wollte Ünal wissen. „Zum einen liebe ich das Campen und zum anderen muss ich anfangen, mein Drogengeld zu waschen.“ Hierzu muss ich Ihnen kurz erzählen, dass mein lieber Schwager im Drogengeschäft tätig ist. „Das Verbrechen liegt ihm im Blut“, meint seine Mutter. „Jedenfalls möchte ich euch nächste Woche einladen.“ „Zum Campen?“, fragte Horst. „Ja, ich habe einige Tiny Houses, in denen ihr für das Wochenende untergebracht werdet.“ „Und weiter?“, hakte ich nach. „Das soll ein Test werden, ich möchte wissen, wo ich mit dem Park stehe.“ „Wo ist das genau?“ „In der Nähe von Limburg“, lächelte Buster. „Und wo ist der Haken?“, wollte Horst wissen. „Was für ein Haken?“ „Na, in deinem Milieu gibt's nichts umsonst!“ Alle lachten. „Macht euch keine Sorgen, es wird nur ein Testwochenende.“ Buster sah jeden an. „Seid ihr dabei?“ „Wir haben nächstes Wochenende nichts vor“, antwortete ich. Am Ende waren alle dabei. Zum Schluss gab Buster zu, dass es doch einen Haken gab. „Wusste ich es doch“, meckerte Horst, „Und welcher wäre das?“ „Es gibt kein Internet und ebenfalls keinen Fernseher, nicht mal Radio“, antwortete Buster stolz. „Wir sind von Samstag bis Montag da?“ „Ja, das Osterwochenende. Ich möchte im Mai eröffnen.“ Alle sahen sich fragend an. „Das sind fast drei Tage ohne alles“, bemerkte Ünal. „Na und?“, antwortete Barbara. „Hmm, mal sehen, was die Kinder dazu sagen“, meinte Enna. Horst verdrehte die Augen. „Also das kann ich nicht glauben. Ist das ein Scherz?“ „Nein“, erwiderte Buster und wippte hin und her, er bemerkte, dass niemand so recht wollte. „Ok, ok, ein Vorschlag zur Güte: es gibt zweimal 15 Minuten Internet.“ „Am Tag?“, forderte Tamara. „Okay, ich gewähre euch um 12:00 Uhr und um 20:00 Uhr jeweils 15 Minuten Internet.“ „Wie soll das gehen?“, ich war echt neugierig auf seine Antwort. „Naja, ich habe einen Störsender aufbauen lassen.“ „Was soll das, warum?“ „In der heutigen Zeit gibt es bestimmt Menschen, die einfach mal befreit werden möchten von den Zwängen, immer online sein zu müssen.“ „Und bei mir bekommen sie diese Gelegenheit.“ „Die Idee ist gut“, meinte Enna und grinste. Alle waren dabei und sehr gespannt, wie es laufen wird, ohne Internet zu leben. Am folgenden Tag, einem Sonntag, fuhren wir zu Maria-Lucia, meiner gehassten Schwiegermutter. Sie durfte das Krankenhaus gestern verlassen. Ich war zum ersten Mal gespannt auf ihre Story. In der Regel sind ihre Erzählungen langweilig, und mit Sicherheit waren alle anderen schuld oder Aliens, auf gar keinen Fall Maria-Lucia. Ich hatte null Bock auf diese Geburtstagsfeier. Es würde – wie immer – langweilig sein. Kennen Sie diese Partys, die keine sind? Ein paar alte Säcke, körperlich wie geistig, hocken im Kreis, und jeder starrt ins Leere. Nicht anders ist es mit meinen Töchtern, die auch zusammenhocken, und niemand sagt ein Wort. Alle glotzen auf ihr Smartphone. Gut, der Geruch ist ein anderer. Bei den jungen Mädchen, die meine Töchter besuchen, duftet es oft nach billigem Parfüm. Noch Stunden später steht der Geruch im Haus und will einfach nicht verfliegen. Bei den Älteren ist es fast ähnlich, auch bei denen wird nicht mit Parfüm gespart. Oft stinkt die gesamte Wohnung nach Kokoklosett oder Lakotz. Und im Fall von Schwiegermutter nach Schweiß der ätzenden Sorte. Jaja, schon klar, der eine oder andere verdreht nun die Augen, aber es ist so. Dennoch beugte ich mich dem Druck meiner Frauen. Die Kinder waren gerne da, weil Opa mit ihnen spielte und Eis essen ging. Maria-Lucia interessierte die Enkel nicht. Sie brachte sogar die Namen durcheinander. Wir sprechen hier von ihren Enkelkindern! Nachdem ich einmal in die Runde gewinkt hatte, war für mich die Begrüßungszeremonie abgeschlossen. Meine Frau sah sich gezwungen, jedem die Hand zu geben oder besser noch, Küsschen-Küsschen. Bäh, das habe ich als Kind schon gehasst. Anschließend verschwand sie im Bad, um sich die Hände zu waschen. Es gab wie immer trockenen Kuchen und Muffins. Leider waren die ebenfalls staubtrocken. Ich kann nicht verstehen, wie es jemand schafft, so etwas Banales zu versauen. Jetzt mal ehrlich, es gibt hunderte Bücher oder Apps, also für jeden etwas. Da kann Mann oder Frau doch mal reinschauen. Maria-Lucia gehört zu den Menschen, die alles können. Sie blubbert die Kunden oder Gäste einfach zu, und überschüttet sie mit Fachwörtern und Geschichten zu Gebäck oder Wein. Doch wenn es an die Ausführung geht, versagt sie kläglich. Vor Jahren gab es mal eine Milchreis-Sahnetorte. Da hatte sich Schwiegermutter weit aus dem Fenster gelehnt. Und sie hat es verkackt. Die Torte war eine Katastrophe. Mit jedem Bissen wurde sie ekelhafter. Selten bekam ich beim Essen einer Torte Brechreiz, aber bei dieser geschah genau das. Jeder Gast war beim Essen damit beschäftigt, sich die Gelatineklumpen aus den Zahnlücken zu pulen. Anfangs lächelten noch alle, wie man das so macht. Schön freundlich schauen, nur kein Problem ansprechen. Aber die Gelatineberge auf den Tellern waren nicht zu übersehen. Meine Schwiegermutter hielt tapfer durch. Sie schluckte und schluckte. Eines muss man ihr ja hoch anrechnen: Sie bleibt sich treu. Die ganze Nacht hat sie an der Torte gearbeitet, erzählte sie stolz. Ich bin ehrlich davon überzeugt, dass sie den Kuchen aus reiner Gehässigkeit versaut hat. Innerlich lacht die Alte sich über uns kaputt. Dieses Mal gab es also sandigen Kuchen mit Sahne. Eigentlich eine gute Idee. Doch irgendwie hatte sie es geschafft, die Schlagsahne zu versalzen. Hallo? SALZ in Schlagsahne? Ich sprach sie darauf an. Sie meinte: „An Sahne kommt immer ein Stich Salz.“ „Ein Stich ist ja okay, aber das hier ist ein ganzes Schwert.“ Bis auf Maria-Lucia krümmten sich alle vor Lachen. Im Anschluss kramte jeder von den Alten seine ganz private Mischung aus der Handtasche. Alle schüttelten ihre Tablettenboxen, und es wurde verglichen, wer den längsten hatte. Ich spreche von Tablettenboxen. Oder wer am meisten schlucken musste. Junge, wenn es nicht so lustig wäre, würde ich heulen. Nach der Kaffeekatastrophe gab es Bier und/oder Schnaps. Beim Trinken steht Schwiegermutter immer an vorderster Front. Als ich sie vor Jahren zum ersten Mal sah, war sie betrunken und lag am Boden einer Kneipe. Ich habe für vieles Verständnis, aber nicht für Menschen, die ihr Leben an Alkohol, Drogen und Fresssucht verschenken. Von dem Tag an war die Alte für mich gestorben. Bis heute säuft und raucht sie ohne Hemmungen. Da ist es kein Wunder, dass ihr Aussehen ihrem wahren Alter um locker 20 Jahre voraus ist. Schuld sind laut ihrer Aussage ihre zwei Kinder: meine Frau Enna und Buster, der Drogendealer. Nach der Scheidung ging Buster mit seinem Vater zurück nach Palermo, während Enna bis zu ihrem 18. Geburtstag bei ihrer Mutter blieb und dann ihre Modelkarriere startete. Ich lernte meine Frau in New York kennen, als ich als Tourist dort war und sie beruflich unterwegs war. Es war März 1997, im Juli desselben Jahres heirateten wir. Enna jobbte als Body-Part-Model, da sie mit einer Körpergröße von 191 cm zu groß war, um als Laufstegmodel zu arbeiten. Sie war und ist immer noch eine Schönheit. Die meisten Fotos von ihr waren von ihrem Mund, Ohren und Augen. Ihre großen Hände waren in Japan beliebt. Mein Freund Marc und ich standen mit Hunderten anderer Touristen an einem der Fahrstühle, um auf die Aussichtsplattform des Empire State Buildings zu fahren. In dieser Menschenmasse fiel mir Enna zum ersten Mal auf. Sie war groß, ihr Haar wild toupiert und ihre Augen kräftig geschminkt. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um besser gesehen zu werden, und als sich die Türen des Fahrstuhls öffneten, warf sie mir einen kurzen Blick zu, bevor sie mit den anderen in einen der Aufzüge verschwand. Es dauerte eine Ewigkeit, bis Marc und ich die Aussichtsplattform erreichten. Der Ausblick über New York verschlug mir den Atem, und ich kann es jedem nur empfehlen, ihn in der Abenddämmerung zu genießen. Ich wusste nicht, wohin ich zuerst sehen sollte. Während ich wild mit meinem Fotoapparat knipste, suchten meine Augen die Plattform nach der Frau ab. Eher zufällig landete eine Stoffmütze vor meinen Füßen, und ich bückte mich, um sie aufzuheben. Doch die Mütze gehörte einem unangenehmen, etwas übergewichtigen Typen, dessen Gesicht aussah wie eine Birne mit Vogelkot darauf. Dieser unsympathische Mann gehörte zu der Schönheit mit den toupierten Haaren. Als wir uns fast zeitgleich aufrichteten, stand sie neben ihm. Sie unterhielten sich auf Italienisch. Ihr Mund war so schön, ihre Lippen so voll, und sie war über 190 cm groß. „Bestimmt ihr Zuhälter“, flüsterte Marc, der dicht hinter mir stand. „Quatsch, das glaube ich nicht. Sie ist perfekt“, murmelte ich. Ich ging zwei Schritte in ihre Richtung, fest entschlossen, mich vorzustellen. Der Mann mit dem birnenförmigen Kopf erkannte meine Absicht und stellte sich mir in den Weg. Er beschwerte sich bei ihr auf Italienisch: „Questo ragazzo non porta altro che guai.“ Keine Ahnung, was das genau bedeutete, aber es klang nicht freundlich. Mir war es egal. Ich musste diese Chance nutzen. Ich war bereit und schob mich an dem schimpfenden Mann vorbei, um mich ihr vorzustellen. Marc hielt meine rechte Seite frei und flüsterte: „Mach schnell, der wird gleich wütend.“ „Hello, I am Udo“, sagte ich, als ich ihr meine Hand entgegenstreckte. Sie erwiderte meine Begrüßung mit einem freundlichen „Hallo, ich bin Enna.“ Ich war sprachlos, aber ihr Lachen zog mich sofort in ihren Bann. Bis heute... Gegen 17 Uhr waren die ersten Gäste also schon halb besoffen und thematisch, wie kann es anders sein, beim Krankheiten-Kräftemessen angekommen: Wer ist schlimmer dran? Wer leidet am meisten? Alle versuchten, sich gegenseitig zu überbieten. Der eine musste zehn Tabletten am Tag nehmen, der andere hatte chronisch dies, der nächste das. Ich stand mit Zoe an der Terrassentür und sagte in einer Lautstärke zu ihr, dass es alle hören konnten: „Wenn ich jemals so werde, bitte, erschieß mich.“ „Du wirst auch mal alt.“ „Ja, werde ich. Wir alle werden alt. Aber muss ich mein Leben damit verbringen, darüber zu jammern? Seid froh, dass ihr lebt und euer ach so beschissenes Leben in Frieden beklagen dürft.“ 18 Uhr. Die meisten Gäste kamen fast vor Hunger um und erwarteten sehnsüchtig das nächste Highlight: Abendessen. Und das geht nicht ohne Maria-Lucias Nudelsalat. Ich erinnere mich, als wäre es gestern, einige Wochen nach unserem Kennenlernen lud mich Enna zum Essen ein. „Meine Mama macht ihren Nudelsalat“, erzählte Enna. Ich dachte an Penne, Pinienkerne und Rucola, dazu getrocknete Tomaten, Mozzarella, Parmaschinken, Knoblauch und tolles Öl. Ein Traum. Ihr Rezept: eine Mischung aus zerkochten Nudeln, Erbsen, Gurken, Eiern und einer ekelhaften Wurst - die ich keinem Hund geben würde. Das Ganze wurde von einer Art Mayonnaise, oder war es Kleister, zusammengehalten. Das Gemisch trotzte der Schwerkraft. Tatsächlich blieb die Pampe in der Schüssel kleben. Den Beweis lieferte Juppi, als er mit dem Salat in der Schüssel auf die Terrasse stolperte. Die Stahlschüssel von Ikea überschlug sich zweimal, ohne dass der Inhalt auch nur über den Rand trat. Bis auf seinen Stolz war Jupp unverletzt. Seine Würde raubte ihm kurze Zeit später Maria-Lucia. Juppi musste seine Kleidung wechseln und verschwand für fünf Minuten. Zeit genug für seine geliebte Frau, ordentlich über ihn zu lästern. „Im Bett ist der Trottel eine totale Niete; da fällt er genauso schnell wie eben hier.“ Was für eine niederträchtige Person, dachte ich. Wer bitte lästert so über seinen Lebensgefährten? Für mich war dieser Höhepunkt das Signal zum Aufbruch. Ich sah zu meiner Frau hinüber. Sie nickte leicht. Wir riefen die Kinder und verabschiedeten uns. Ohne meine Schwiegermutter anzusehen, verließen wir die Party. Für mich stand fest: Nie wieder werde ich die beiden besuchen. Auf dem Weg nach Hause herrschte wie immer Stille im vollbesetzten Wagen. Die Kids stöpselten ihre In-Ears ein und wippten zu ihrer Musik. „Was für ein Wochenende“, lachte Enna. „Zum Glück sind bald Osterferien“, antwortete ich. „Wo geht's eigentlich hin dieses Jahr?“, fragte Mia. Überrascht blickte ich in den Rückspiegel. „Ich dachte, du hörst Musik?“ „Nö“, antwortete sie knapp. „Aber warum trägst du die Dinger in deinem Ohr?“, warf Enna ein. „So hat man einfach seine Ruhe.“ „Wie?“ „Na, ihr habt doch auch gedacht, ich höre euch nicht.“ „Also, sprecht ihr uns in der Regel auch nicht an!“, mischte sich nun auch Nele ein. „Und du, Zoe, hörst du auch zu?“, wollte ich wissen. „Nein, sie hört wirklich Musik“, lachte Mia. „Also, ist das so ein 'Ich-habe-meine-Ruhe'-Ding, Kopfhörer an und frei von jedem sozialen Kontakt.“ „So ist es“, antworteten Mia und Nele. „Und was ist mit dem Urlaub?“, fragten beide nach. „Nächstes Wochenende fahren wir zum Campen nach Holland.“ „Ihh, Camping“, maulte Nele. „Wir wohnen in einem Tiny Park.“ „Ach, von Onkel Buster?“ „Ja, woher wisst ihr von dem Park?“ „Na, von seiner Tochter“, verdrehte Mia die Augen. „Und was machen wir noch?“ „Wir werden schon etwas finden, wir haben ja zwei Wochen Zeit“, antwortete ich. Zuhause angekommen, parkte ich den Wagen wie immer im Hof. Da ich zu faul war, hatte ich das Tor offen stehen lassen, was normalerweise kein Problem ist – normalerweise. „Da steht jemand“, schrie Enna erschrocken. „Wo?“ „Da neben der Scheune steht ein Typ.“ Tatsächlich lungerte ein Mann mittleren Alters neben der Scheune. „Schatz, ruf die Polizei“, flehte Enna. „Bleib mal locker.“ Ich griff unter meinen Sitz und zog einen kleinen Knüppel heraus. Früher hatte ich immer einen Baseballschläger dabei, bis mir bei einer Verkehrskontrolle von einem Polizisten gesagt wurde, dass dies eine Waffe sei. Daraufhin habe ich den Schläger gegen einen Stiel für eine Kreuzhacke ausgetauscht, denn der Stiel ist Teil eines Werkzeugs und keine Waffe. „Ihr bleibt im Auto“, mahnte ich meine Familie, bevor ich die Wagentür aufriss und hinausstürmte. Brüllend rannte ich in Richtung Scheune. Hinter mir filmten die Kids mit ihren Smartphones alles. Zoe, so erfuhr ich später, ging sogar live und streamte über einen ihrer Kanäle. „Komm raus, du Penner“, rief ich. Ein wenig nervös war ich schon. „Wir haben dich gesehen, du perverser Drecksack“, schrie ich weiter. Fast am Ende des Gartens sah ich ihn. Er versteckte sich hinter einem der wenigen Sträucher. Ich überlegte kurz: Soll ich ihm weiterfolgen? Der Zaun rundherum ist 1,8 Meter hoch, da kommt der Typ nicht so einfach raus. „Hören Sie, ich gebe Ihnen eine Minute. Kommen Sie raus, sonst mache ich Sie fertig.“ So langsam übernahm der Höhlenmensch in mir die Kontrolle. Ich muss meine Familie beschützen und Feinde vertreiben. Ich rannte erneut in seine Richtung und schwang meine Keule. Der Typ trat aus seiner Deckung. Er war ungefähr in meinem Alter, nur nicht so gutaussehend. „Ich ergebe mich“, mit diesen Worten warf er sich auf den Boden. „Was zur Hölle wollen Sie hier?“, fauchte ich ihn an. Meine Familie hatte den Wagen längst verlassen und filmte weiter. „Ich bin wegen Zoe Clain hier“, wimmerte der Typ. „Was wollen Sie von meiner 15-jährigen Tochter, hä?“ „Ich rufe die Polizei“, rief Enna wutentbrannt. „Nein, keine Polizei, bitte!“, flehte der Typ. „Warum nicht, du Pisser?“ „Ich will doch nur ihr Smartphone, mehr nicht.“ „Fuck, fuck, fuck“, hallte es von weiter hinten. Es war Zoes Stimme. Zoe lief in unsere Richtung und blieb kurz vor dem Mann und mir stehen. „Sind Sie der [User Name hier eintragen]?“ Der Typ lag noch am Boden mit seinem Gesicht im Gras. „Ja“, nuschelte er. „Fuck, Papa, er kauft mir mein iPhone ab.“ „Das ist doch wohl ein schlechter Scherz“, schimpfte Enna, während ich dem Mann aufhalf. „Und warum lungern Sie in unserem Garten?“, wollte ich wissen. „Ich wollte das Teil nur mal sehen, bevor ich es kaufe. Man hört so viel Schlimmes über Käufe im Netz.“ „Junge, da haben Sie recht. Und jetzt möchte ich, dass Sie gehen.“ Zoe ging auf ihn zu und zeigte ihm ihr Handy. „Hier, alles in Ordnung mit dem Teil, es ist wie neu“, sagte sie. Enna packte Zoe am Arm und zog sie hinter sich her. „Wir müssen uns unterhalten.“ Mia und Nele folgten meiner Frau ins Haus. „Ich habe das Geld dabei“, bettelte [User Name hier eintragen]. „Halten Sie Ihren Mund“, sagte ich und begleitete [User Name hier eintragen] zum Tor. Ich hatte keine Ahnung, was ich ihm sagen sollte. Ich würde mich niemals irgendwo treffen und Bargeld immer vor einer Polizeiwache übergeben. Ich schloss das Tor und ging über die Terrasse ins Wohnzimmer. Die Auseinandersetzung zwischen Zoe und meiner Frau war schon voll im Gange. Zoe hatte sich über ihr PayPal-Konto das neueste iPhone bestellt, Pro Max mit 1TB, für schlappe 1700 Euro. Der Preis spielte hier keine Rolle, es ist ja ihr Geld. „Du kannst dich doch nicht mit jedem x-beliebigen Typen verabreden, um ein Smartphone zu verkaufen.“ „Hatte ich auch nicht vor.“ „Und dann gibst du auch noch unsere Adresse an!“ Zoe hatte einen Fehler gemacht; an ihren Augen war zu sehen, dass sie begriffen hatte, was passiert war. Aber sie wollte und konnte es nicht zugeben. Die Jugend von heute macht nämlich keine Fehler... „Darf ich jetzt endlich auf mein Zimmer?“ „Klar.“ Zoe stampfte davon. Was du heute kannst besorgen… „Du Schatz“ kostet Geld oder Nerven, im schlimmsten Fall beides. Clark Clain „Wie wird es wohl sein, wenn die Kinder irgendwann ausziehen?“ „Die ziehen nie aus“, flüsterte Enna. Hoffnung und ein Hauch von Traurigkeit schwangen in ihrer Stimme mit. Gegen 23 Uhr lagen wir schon im Bett. Die letzte Nacht hatte ihren Tribut gefordert. Meine Frau flüsterte: „Du, Schatz.“ „Du Schatz“ kostet Geld oder Nerven, im schlimmsten Fall beides. „Nele hat am Mittwoch ihre Führerscheinprüfung.“ Ich hatte das ganz vergessen. „Ja, und?“ „Was kaufen wir für ein Auto?“ Ich wusste es: beides. Eigentlich wollte ich schlafen, aber anstelle von Schafen zählte ich nun die Kosten, die damit einhergehen würden. „Irgendwas Billiges.“ „Ja, aber es muss ein Automatik-Auto sein.“ Auch das noch! „Warum?“ „Wegen Neles Dyskalkulie.“ Unsere Nele kann nicht rechnen. Selbst eine Uhr mit Ziffernblatt lässt sie verzweifeln. In der Grundschule fiel es nicht auf, aber als sie auf die Realschule kam, war es vorbei. Man hielt sie für beschränkt, und sie musste einen IQ-Test machen. Das Ergebnis war überraschenderweise 148. „Also, dumm ist sie nicht“, sagte ich der Lehrerin. Sie lächelte mit ihrem Montessori-Lächeln, die blöde Kuh. Wir fanden einen Therapeuten, der Nele half, alles mittelprächtig zu verstehen. „Was hat das bitte mit einer Gangschaltung zu tun?“ „Der Therapeut sagt, dass sie damit nicht umgehen kann.“ „Automatik ist nicht günstig.“ „Schon, aber was haben wir für eine Wahl?“ Die Wahl hatte ich vor über 17 Jahren: verhüten oder nicht. „Du hast ja recht, aber ich muss jetzt schlafen.“ „Nacht, Schatz.“ Fünf Minuten später … Meine Frau flüsterte: „Du, Schatz.“ Verdammt, was denn noch? „Was?“, murmelte ich. „Hast du den Müll rausgestellt?“ Verdammt, nein, das hatte ich vergessen. „Mach ich morgen früh, versprochen. Und jetzt gute Nacht.“ „Nacht, Schatz.“ Am nächsten Morgen wurde ich aus meinen zuckersüßen Träumen gerissen. Ein dumpfes Brummen breitete sich von der Straße über den Hof bis zu unserem Schlafzimmer aus. „Was zum Teufel?“, fluchte ich. „Die Müllabfuhr“, säuselte meine Frau im Schlaf. „Verdammt!“ Ich sprang aus dem Bett und rannte durchs Wohnzimmer zum Stellplatz. Fluchend stand ich vor den Tonnen. „Mist, welche Tonne kommt heute dran?“ „Bio“, rief mein Nachbar vom Fenster herunter. Manchmal hat es was Gutes, dass der Alte so neugierig ist. „Danke“, rief ich und schnappte mir die Tonne. Ich sprintete barfuß die Einfahrt herunter zum Bürgersteig. Der Müllwagen war längst vorbei und entfernte sich langsam, aber sicher. „Hey, ihr habt meine Tonne vergessen“, rief ich einem der Müllmänner nach. Der drehte sich zu mir, schüttelte den Kopf und ging weiter. „Das gibt es doch nicht, der geht einfach weiter“, schimpfte ich und lief erneut los. An einem überstehenden Kopfsteinpflaster stieß ich mit voller Wucht gegen meinen dicken Zeh. Mein lädiertes Knie meldete sich ebenfalls schmerzhaft. Fluchend kämpfte ich gegen die Schwerkraft und schaffte es, mich an einer Laterne festzuhalten. Dabei rammte ich mir die Tonne gegen meine Ferse. „Verdammt.“ Der Müllwagen näherte sich den letzten Tonnen der Straße. Endlich hatte ich ihn erreicht. Schweiß tropfte von meinem Kinn. Mein dicker Zeh blutete. „Hey, ihr habt meine Tonne vergessen, bitte leert sie“, stammelte ich. Der Mann sah mich an und meinte: „Wir vergessen nie eine Tonne.“ „Diese hier aber schon.“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht zeigte ich auf die Tonne neben mir. Die beiden ignorierten mich und machten weiter. Ich war verzweifelt. „Hey, meine Tonne“, schrie ich wieder. Sie taten, als ob ich nicht existieren würde. Kurzentschlossen lief ich los und warf mich vor den Müllwagen. „Ich weiche erst, wenn meine Tonne geleert ist“, rief ich. Der Müllwagen stoppte wenige Zentimeter vor mir. Die Hupe dröhnte. „Ich bleibe hier“, schrie ich zurück. Um mich herum versammelten sich Schaulustige. „Endlich zeigt mal jemand den Müllmännern, wie es geht“, sagte einer. „Der ist verrückt“, meinte ein anderer. Autos stauten sich und hupten. Mir war bis zu jenem Moment nicht bewusst gewesen, wie viele Autos diese Straße durchfuhren. Ein Mann mit Glatze fragte einen Müllmann: „Hat schon jemand die Polizei gerufen?“ „Sie sind unterwegs.“ „Ihr müsst nur die Tonne leeren“, schrie ich verzweifelt. Zwei Teenager filmten das Ganze. Das Video würde sicher auf TikTok landen. #grumpyoldman, dachte ich. Meine Kinder würden das sicher sehen. Ich konnte nicht einfach aufgeben. Was sollte ich tun? „Typisch Clain“, hörte ich jemanden sagen. Ich habe in der Straße nicht den besten Ruf und das nur, weil ich Dinge tue, die ich für angemessen halte, wie heute hier. Ein älterer Mann mit Gehhilfe bleibt auf dem Bürgersteig stehen und schaut zu mir rüber. „Gib die Straße frei, du Freak.“ Ich frage mich, was hat dieser alte Sack mit der Straße zu tun? Ein weiteres Übel unserer Zeit: Jeder meint, zu allem etwas sagen zu müssen. Manchmal ist es besser, einfach mal den Mund zu halten. Nach einer gefühlten Ewigkeit erklingt in der Ferne ein Sirenengeheul. „Jetzt bist du dran“, meint einer der Müllmänner. Die Menge jubelt den beiden Polizisten zu, die sich zu mir durchkämpfen. Was für ein Theater, denke ich. Der eine unterhält sich mit den Müllmännern. Eine Polizistin spricht mich an: „Guten Tag, warum liegen Sie auf der Straße?“ „Weil sie meine Mülltonne vergessen haben und diese nicht leeren wollen.“ Sie neigt ihren Kopf leicht und schaut mich ungläubig an. „Können Sie sich ausweisen?“ Ich schaue an mir herunter. Ich trage nur Boxershorts. „Nein, aber ich wohne gleich da hinten“, antworte ich. „Stehen Sie bitte auf, und wir gehen zu Ihnen nach Hause“, sagt sie freundlich, aber bestimmt. Die Menge klatscht, während die Polizisten mich und meine volle Tonne nach Hause begleiten. Sie überreichen mir eine Anzeige und verabschieden sich mit den Worten: „Seien Sie doch etwas entspannter.“ Nachdem ich ausgiebig geduscht hatte, ging ich ins Büro, das sich im Erdgeschoss befindet. Mein Smartphone zeigt an, dass neue Nachrichten eingegangen sind. Von „Alter, was ist bei dir los?“ bis zu „Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?“ war alles dabei. Gegen elf Uhr lehnte meine Frau im Türrahmen. „Was für ein Morgen“, murmelte sie. „Du kannst dir nicht vorstellen, was los war“, erwiderte ich, umarmte sie und wir küssten uns. In der Küche angekommen, griff meine Frau nach ihrem Smartphone. „Bevor du da reinschaust, muss ich dir etwas erzählen.“ Sie schaltete die Kaffeemaschine ein und ich berichtete ihr von einem kleinen Zwischenfall mit der Müllabfuhr. „Stopp, ich will die Details gar nicht wissen.“ Sie setzte sich und las die Kommentare. Nachdem sie das Video gesehen hatte, lachte sie und sagte: „Du bist wirklich verrückt.“ Enna erzählte mir, dass sie auch schon einmal die Mülltonne vergessen hatte und es mit einem kurzen, freundlichen Telefonat klären konnte. Am nächsten Tag wurde die Tonne geleert. Monate später wertete ein Gericht mein Verhalten als Nötigung und stellte das Verfahren gegen eine Zahlung von 500 Euro ein. Aussehen ist nicht alles… „Eine Laune der Natur“ Der Notarzt Gegen Mittag trudelten die Kinder ein. „Wow, Papa, du hast schon über 30 Tausend Views.“ Ich erzählte, wie es zu diesem Video gekommen war. Wir lachten uns schlapp, bis auf meine Frau. „Das ist nicht lustig“, mahnte sie. Beim Essen fiel meiner Frau und mir auf, dass mit Mias Fingernägeln etwas nicht stimmte. „Sind die über Nacht gewachsen?“, hakte meine Frau nach. „Nein, ich war im Nagelstudio“, antwortete Mia gekonnt lässig. „Bist du verrückt?“ Mia verdrehte ihre Augen auf eine Art, die alle Eltern zur Weißglut bringt. Meine Frau Enna sah sich die Nägel etwas genauer an. „Die haben dir dein Nagelbett ruiniert“, meckerte sie. „Wo warst du?“ „Nails and More, warum?“ „Da fahren wir jetzt hin, das geht so nicht.“ „Aber meine Nägel bleiben dran“, forderte Mia. „Ja, aber die haben schlampig gearbeitet, und du bist noch keine 18 Jahre.“ „Ich will das Geld zurück.“ Meine Frauen fuhren gemeinsam zum Nagelstudio. Mein Smartphone klingelte, es war Ünal. Er ist unser kleiner Liebling, ein guter Freund der Familie und mein bester Freund. Es gibt nicht viele echte Freunde in meinem Leben. Klar, es gibt die guten Bekannten, mit denen man sich auch ernsthafter unterhält. Die wichtigen Themen bespreche ich mit meiner Frau oder mit Ünal. Leider ist Ünal, wie soll ich es sagen, er ist nicht gerade eine Schönheit. Niemand ist für sein Aussehen verantwortlich. Es gibt ja auch unansehnliche Tiere. Um es auf den Punkt zu bringen: Er ist hässlich. Da helfen auch die schönsten Anzüge, die perfekten Zähne und Fingernägel nicht; sein Gesicht ist eine Katastrophe. Die Stirn wirft Falten wie ein Haufen Wäsche. Die Ähnlichkeit mit einem Shar-Pei, dem chinesischen Faltenhund, ist verblüffend. Seine Glubschaugen stehen unnatürlich weit vor. Am liebsten möchte man in Deckung gehen, aus Angst, sie fliegen einem jeden Moment entgegen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sehr seine Mutter darunter gelitten haben muss. Man stelle sich vor, wie sie den kleinen Ünal in ihren Armen hält, um ihn zu stillen... Vielleicht ist das einer der Gründe, weshalb Ünal salzige Milch liebt. Die salzigen Tränen der Mutter tropften auf ihre Brust, und er sog sie genüsslich mit der Muttermilch auf. Spaß beiseite. Kennengelernt haben wir uns vor 35 Jahren. Es war ein lausiger Sommer. Zu der Zeit lebten und spielten in unserer Straße locker 40 Kinder. Meine beiden älteren Brüder hatten tags zuvor ihren 16. und 18. Geburtstag gefeiert. Es gab Bier, Bacardi-Cola und ältere Mädchen. Mir als kleinem Bruder wurde verboten, den Partykeller zu betreten. Also saß ich vor der Tür und wartete auf die Mädchen. Es gab keinen anderen Weg zur Toilette; sie mussten an mir vorbei. Die meisten fanden mich ungemein süß und gaben mir immer Küsse auf die Wange. Ich war zehn Jahre alt und begeistert. Was meinen beiden Brüdern überhaupt nicht gefiel. Sie packten mich, zerrten mich die Treppe hoch und beschwerten sich bei unseren Eltern. Mit dem Ergebnis, dass ich den restlichen Tag auf meinem Zimmer verbringen durfte. Dennoch war es ein bombiger Abend. Am nächsten Morgen spielten wir mit den Kindern aus unserer Straße im Garten Fangen und Verstecken. Gegen 12 Uhr gingen die meisten nach Hause. Alle flitzten durch unser Wohnzimmer, über den Flur zur Straße. Nur Ünal nicht. Der lief mit voller Wucht gegen den Türrahmen. Er fiel nach hinten und blieb im Flur liegen. Er hatte seine Augen geöffnet und lag da. Ich fand sein Gesicht irgendwie komisch und rief meine Mutter. „Mama, komm mal, hier liegt ein Junge!“ Meine Mutter kam aus der Küche und sah hinunter zu Ünal und schrie: „Was ist das?“ Ich kannte ihn selbst noch nicht; er war neu zugezogen. „Er ist gegen den Rahmen gelaufen und volle Kanne nach hinten gefallen“, antwortete ich. Meine Mutter rief nach meinem Vater: „Hubert, Hubert!“ „Was?“ „Das musst du dir ansehen, hier liegt.“ Meine Mutter machte eine kurze Pause, um sich Ünal genauer anzusehen. „Hier liegt, ach nun komm schon“, forderte sie. Mein Vater lag wie immer auf der Couch. Nach dem fünften „Hubert!“ erhob er sich und schlurfte in unsere Richtung. Als er Ünal erblickte, fiel ihm seine Zigarette aus dem Mund. „Was in Gottes Namen ist das?“ „Er war auf einmal hier und hat mitgespielt.“ „Und warum liegt es da?“ „Er ist volle Kanne gegen den Rahmen gelaufen und zurückgeknallt“, erzählte ich voller Begeisterung. „Kein Wunder, so wie der glotzt, kann der doch nicht durch die Türe laufen“, bemerkte meine Mutter. „Quatsch, der ist reingekommen, also kommt er auch wieder raus“, antwortete mein Vater trocken. Er pikste Ünal mit dem Stiel eines Schrubbers. „Lebt der noch?“ Er beugte sich über Ünal. „Woher kommst du?“ Keine Antwort. Er lag nur da. „Ich rufe einen Notarzt.“ Mit diesen Worten griff meine Mutter zum Telefon. 20 Minuten später betrat der Doktor unseren Flur und reagierte wie alle anderen. „Eine Laune der Natur“, murmelte er vor sich hin. Letztendlich stellte er fest, dass Ünal sehr wohl sehen konnte. „Dieser Junge ist sturzbesoffen“, lautete seine Diagnose. Was wir zu jenem Zeitpunkt nicht wussten, war, dass Ünal den gesamten Schaum von den Bierfässern geschlürft hatte, die am unteren Ende der Kellertreppe lagerten. „In drei bis vier Stunden geht es ihm wieder besser.“ „Und die Augen?“ „Die sind leider so“, antwortete der Arzt und verabschiedete sich. Angeekelt trugen meine Eltern Ünal in mein Zimmer und legten ihn in mein Bett. „Keine Sorge, ich werde es später frisch überziehen“, flüsterte meine Mutter mir zu. Meinen Vater zog es wieder auf die Couch, meine Mutter verschwand zum Einkaufen. Ich blieb neben Ünal, hockte mich auf einen Stuhl und beobachtete ihn. Nach wenigen Stunden öffnete er seine komischen Augen und sah mich fragend an. „Was ist passiert?“ Ich erzählte ihm alles, und wir lachten uns schlapp. Von dem Tag an war der Junge mit dem komischen Gesicht mein Freund. „Ohne Ching kein Chang“ „Das alles wüsstest du, wenn du mir mal zuhören würdest.“ Enna Clain Zurück zu unserem Telefonat, Ünal hatte ebenfalls das Müllvideo gesehen. Auch er war der Meinung, dass ich das einfacher hätte lösen müssen. Wenige Minuten später trafen meine Frauen ein. Was soll ich sagen, Mia hatte ihr Geld zurückbekommen. Enna hatte zwei weitere kostenlose Termine zur Nachbehandlung für Mia verlangt und bekommen. Gegen 1:30 Uhr lagen meine Frau und ich im Bett, mein Video hatte mittlerweile über 80k Views. Ich war wie immer reif fürs Bett, doch Enna brannten noch einige Dinge unter den Nägeln. „Du, Schatz.“ Geht das schon wieder los. „Ja?“ „Dein Ausraster mit der Müllabfuhr.“ Sie machte eine Pause, ich hasse diese Pausen. „Ja?“ „Das ist ja nicht das Einzige.“ Sie hat Recht, ich flippe viel zu oft aus. Da ist zum einen meine Baufirma und die damit verbundenen Ärgernisse, das Finanzamt, die säumigen Kunden, um nur zwei Beispiele zu nennen. Meine Lunte ist so kurz, dass ich nur wenig Spielraum habe und gleich an die Decke gehe. „Du kannst ja nicht mal einen Brief lesen ohne Randale zu machen.“ „Ich weiß, verdammt.“ Das Schlimmste an der Post ist ja nicht nur der Inhalt, das Schlimmste ist, sie wird zum Wochenende zugestellt. Post vom Finanzamt, Anwälten oder Urlaubsgrüße von der Schwiegermutter. Ich bin davon überzeugt, dass das gewollt ist. So kann man den Menschen nebenbei noch das Wochenende versauen. Wir haben vor gut drei Monaten die Regel aufgestellt, dass wir von Freitag bis einschließlich Sonntag keine Post mehr annehmen. Der Briefkasten wird nicht angerührt. Was soll man sich das Wochenende versauen? Handeln kann man ja eh nicht und ärgert sich die freien Tage. Nein, nicht mehr mit uns. Mit Sicherheit hat meine Frau wieder eine von diesen abenteuerlichen Ideen. „Also, was schlägst du vor?“ Ich hatte meine Frage noch nicht beendet, da saß Enna schon aufrecht im Bett. Die hat doch nur darauf gewartet. Sie greift nach links unters Bett und zaubert eine Apotheken-Umschau hervor. „Schau mal, hier: Innere Mitte finden mit Hilfe von Räucherstäbchen.“ Ich glaub es nicht! „Toll, und jetzt?“ „Ich schlage vor, wir machen das morgen früh, sobald die Kinder raus sind.“ „Ich habe aber doch morgen früh meinen Termin auf der Baustelle“, werfe ich ein. „Ja, ich weiß, mein Schatz. In der Zeit besorge ich die Stäbchen und was wir noch benötigen.“ Klasse. „Ok, wir machen das, so wie du es für richtig hältst.“ Stille. „Was soll das denn heißen, wie ich es für richtig halte?“ Oh, sie wird böse. „Nichts, du musst nicht immer etwas reininterpretieren“, antworte ich gekonnt, um endlich schlafen zu können. Ich gebe meiner Frau einen Kuss und dreh mich um, endlich schlafen. „Eins noch.“ Oh Mann, was denn noch? „Was, mein Schatzi?“, flüstere ich extra müde. „Das Auto für Nele, schon was gefunden?“ Verdammt, nein, ich habe nicht mal gesucht. „Klar, ich habe heute noch mit Ünal telefoniert, der hört sich auch um.“ „Aha.“ „Ja, die anderen habe ich nicht erreichen können, sorry.“ „Nacht, Schatz.“ „Nacht, Schatz.“ Endlich Ruhe ... Am nächsten Morgen… Ich hatte gegen zehn Uhr meine Runde auf der Baustelle abgeschlossen. Zuhause angekommen, erwartete mich bereits meine Frau. Wir küssten uns zur Begrüßung. Meine Frau hielt zwei blaue IKEA-Taschen in ihren Händen. „Was hast du da?“ „Lauter nützliche Dinge, mein Schatz.“ „Schau mal hier.“ Sie kramt eine Klangschale hervor. „Wir haben eine Klangschale?“, frage ich überrascht. „Ja, eine tibetische Klangschale mit Klöppel“, antwortet Enna ein wenig stolz. „Das alles wüsstest du, wenn du mir mal zuhören würdest.“ Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass mir oft vieles nebenbei erzählt wird. Die Dusche ist einer von diesen „HAB ICH DOCH GESAGT“-Orten. Ich steh unter der Dusche, die Tür öffnet sich und jemand von meinen Frauen erzählt irgendwas. Ich verstehe wenig bis gar nichts, später heißt es, habe ich dir doch gesagt. Ich greif nach dem Klöppel und seh mir das Teil genauer an. „Der sieht aus wie ein Dildo“, sag ich. Meine Frau verdreht nur die Augen. „Trinken wir noch einen Kaffee, bevor wir loslegen?“ „Nicht vor der Meditation.“ Ich schaue sie fragend an. „Wir haben Tee.“ Ich trinke Tee im Winter oder wenn ich krank bin, aber doch nicht im Sommer! „Das ist ja toll“, antworte ich knapp. „Was gibt es für einen Tee?“ „Ich bereite uns einen traditionellen tibetischen Tee zu.“ Das wird ja immer besser, aber meiner Frau zuliebe spiele ich mit. „Klingt interessant.“ „Es ist ein Po Cha, man trinkt ihn mit Yak-Butter.“ Ekelhaft, Tee mit Butter. „Sag nicht, du hast Yak-Butter gekauft?“ „Quatsch, die gibt es hier nicht. Wir benutzen normale Butter.“ Meine Frau zerstampft einen Riegel gepressten Tee und wirft ihn in einen Kessel, in dem zuvor das Wasser gekocht wurde. Im Anschluss gibt sie alles in einen Mixer: Tee, Butter und Salz. Baaahhhh. Sie reicht mir eine Tasse und ich nippe ein wenig daran. Hmm, schmeckt wie eine von diesen billigen Gemüsebrühen mit Mie-Nudeln, die Nele immer kauft. Butter und Salz in Tee, warum? Enna schlürft ihn so weg. Ich wette, ihr schmeckt er auch nicht. Sie macht es wie bei ekliger Medizin, einfach runter damit. Also zieh ich mir diesen Becher Tee ebenfalls rein. „Jetzt gehen wir in uns“, flüstert sie mit einer lieblichen Stimme, wie es eine zufriedene Frau nur kann. Toll, auch das noch. Nach einer gefühlten Ewigkeit erhob sich meine Frau vom Stuhl. Sie schloss alle Fenster und stellte die Klingel ab. Da, wo sonst unser Sessel stand, liegt nun eine große Matte, auf der sich fünf Räucherstäbchen-Halter aus Bambus zu einem Kreis vereinten. Ich setzte mich gegenüber meiner Frau in den Schneidersitz. Enna schlug die Klangschale an, die Räucherstäbchen glimmten und aus den Lautsprechern erklang das Rauschen eines Baches. Nach nur wenigen Minuten verspürte ich ein vertrautes Gefühl. Ich musste pupsen, mir war klar, dies ist weder die Zeit noch der Ort dafür. Enna empfing meine verkrampfte Schwingung. „Mach dich locker, entspanne dich“, flüsterte sie. Ok, was soll's, sie hat es ja nicht anders gewollt. Langsam ließ ich meine Darmgase entweichen. Ich verteilte sie in einer Reihe von kleinen Schüben. Zu meiner Verwunderung übertünchte der Räuchergeruch jede andere Note. Meine Frau schwang hin und her, verdammt, bei ihr hatte es gewirkt. Sie sprach mit ruhiger und klarer Stimme zu mir. „Schatz, erhebe dich und geh zum Briefkasten.“ Kurz darauf stand ich mit der Post in den Händen im Wohnzimmer. Umgehend öffnete ich die Briefe und las alles, ohne mich aufzuregen. Eine angekündigte Umsatzsteuer-Sonderprüfung ließ mich kalt. Normalerweise endet dies in Hasstiraden, in denen ich allen Behörden mit einem Amoklauf drohe. Ich war verblüfft und erfreut. Meine Frau grinste wie ein Honigkuchenpferd. Enna und ich lagen uns in den Armen. Der richtige Zeitpunkt, um eine Nummer zu schieben, dachte ich. Doch was ich mir denke, entspricht lange nicht der Realität.... Sie befreite sich aus meinen Fängen und griff nach einer der IKEA-Taschen und kramte einige Bücher raus. „Hier, die musst du noch lesen“, befahl Enna. Klasse, auch das noch. Fünf Bücher türmten sich vor mir. Ich fing an mit „Werde eins mit deiner Seele“, gefolgt von „Ohne Ching kein Chang“ und arbeitete mich bis zu „Liebe, Weisheit, Erkenntnis – ein Geschenk, das Herz und Seele berührt“. Da unser Experiment mit den Räucherstäbchen funktioniert hatte, übertrug ich das System aufs Autofahren. Meine Frau hatte mir am Armaturenbrett eine Halterung angebracht. Für kurze Fahrten über Land zündete ich mir ein Stäbchen an. Stadtverkehr: drei Stäbchen, Autobahn: zwei Stäbchen. Maximal acht konnte ich anbringen. Okay, die Sicht wurde etwas eingeschränkt, trotz allem fuhr ich entspannter denn je. Die Nachbarskatze Neles Führerscheinprüfung stand in der nächsten Woche an. Nach langer Suche habe ich einen passenden Wagen gefunden: einen Citroën C2 aus erster Hand. Ein Opa hatte den Wagen 18 Jahre gefahren. Kilometerstand 56k, zwei Jahre TÜV. Für 3.600 Euro war der Wagen zu haben. Der Händler war keine sechs Kilometer von uns entfernt, also bin ich hin zu Fuß! Nachdem ich mir den Wagen angesehen hatte, zahlte ich ihn an und machte mich auf den Heimweg. Zu Hause angekommen, machte ich es mir auf der Terrasse bequem. Eine leichte Brise wehte mir entgegen, herrlich, dachte ich. Frühling! Doch an dem Geruch stimmte etwas nicht; ein ekelhafter Gestank übertünchte alles. Ich sprang auf, sah mich um, und da war sie, die Nachbarskatze. Wenige Meter von mir entfernt machte sie ihren Haufen. „Du Drecksvieh“, schrie ich und warf gezielt mit einem Stein nach ihr. Ich liebe Tiere, nur keine Katzen, die in meinen Garten kacken. Die hasse ich genauso wie ihre Herrchen. Ich gehe in die Garage und greife mir eine Maurerkelle, um die Kacke aus meinem Garten zu entfernen. Mit der übel stinkenden Kacke auf der Kelle mache ich mich auf zu meinem Nachbarn. Ich klingele Sturm, niemand öffnet, war ja klar. Also schmiere ich die Scheiße auf deren Fensterbank vom Küchenfenster. Später erzählte ich meiner Frau von dem Vorfall und der Scheiße. „Dir ist schon klar, dass Hubert gestorben ist.“ Hubert ist tot! Ich war geschockt. „Wann und warum erfahre ich das erst jetzt?“ „Das war vor zwei Wochen, ich habe dir erzählt, dass er ins Krankenhaus gebracht wurde.“ „Ja, aber dass er gestorben ist, nicht.“ „Deshalb sind die Kinder schon da oder was machen die da?“ „Ja, die ziehen demnächst da ein.“ „Und Karla, was macht die?“ Karla ist die Frau von Hubert, oder war es. Ich überlegte kurz, um mich zu erinnern. Das war vor einigen Wochen, da wurde er von der Feuerwehr abgeholt, also von seinem Bett zum Krankenwagen. Hubert war fett, so kann man es sagen, nicht dick oder mopelig, nein, fett. Vor einem Jahr musste er seinen Zaun, der an unser Grundstück grenzt, reparieren. Wie gesagt, unser Garten ist 50 Meter lang; die Strecke hat er nicht geschafft, also war er mit einem Stuhl unterwegs, um sich alle fünf Meter setzen zu können. Hubert war freundlich und nett, seine Frau Karla, hmm... Karla konnte am Gemüsewagen, der einmal die Woche durch unsere Straße fuhr, neben mir oder meiner Frau stehen; sie grüßte nie. Manche Menschen sind eigenartig, wegen ihrer Nicht-Grüßen-Mentalität und ihrer wild um sich scheißenden Katze hatte Karla eh bei mir ausgeschissen. Eine Beileidskarte haben wir ihr dennoch eingeworfen. „Hoffentlich wird er verbrannt“, flüsterte ich vor mich hin. „Warum das?“ „Na, warum wohl? Er wog 278 Kilo, wer soll den Sarg tragen?“ Meine Frau schüttelte den Kopf und schwieg. Kurze Zeit später sah sie mir in die Augen und sagte: „Du bist einer der Sargträger“, dabei zog sie entschuldigend ihre Augenbraue hoch. „Nicht dein Ernst, warum ich?“ „Es war einer von Huberts letzten Wünschen.“ Die Asche wiegt doch bestimmt immer noch 50 Kilo. „Fuck.“ Bettruhe „Ach ja, ich habe dir gestern Nasenpflaster gekauft.“ Enna Clain Um 23:30 Uhr liegen wir im Bett, und ja, wir hatten Sex. Meine Frau liegt mit ihrem Kopf auf meinem linken Arm und krault meinen Bauch. Mir fällt auf, dass sie seit etwas über fünf Minuten nichts gesagt hat. „Alles gut?“, frage ich. Ein kurzes „Ja“. Okay, sagt sie was, stört es; sagt sie nichts, stört es auch. Verrückt. „Was gibt es Neues?“ „Die Kinder freuen sich aufs Campen.“ „Ich bin gespannt, wie lange, wenn sie morgen erfahren, dass es nur 30 Minuten Empfang am Tag gibt“, sage ich. „Ja, besonders Zoe wird ausflippen“, ergänzt Enna. „Ach ja, ich habe dir gestern Nasenpflaster gekauft.“ Wieder diese Pause. Meine Frau meint, ich schnarche, dabei schnarcht sie! „Und weiter?“ „Wir machen die jetzt mal drauf, ok?“ Was habe ich für eine Wahl. „Ok.“ Meine Frau erhebt sich und greift wieder unter ihre linke Bettseite. Tatataa. „Und was sollen die bringen?“ Anna kniet sich neben mich und klebt mir ein Pflaster auf die Nase. „Schon komisch, aber ich versuche es.“ „Mach das, hab dich lieb.“ „Ich dich auch.“ Ich gebe meiner Frau einen Kuss und drehe mich um. „Nacht Schatz.“ „Nacht.“ Wenige Sekunden später … Sie: „Schatz, hast du deinen Koffer eigentlich schon gepackt?“ Scheiße. „Ich dachte, du hättest das für mich gemacht!“ „Echt jetzt? Ich war den ganzen Tag hinter den Kindern her.“ „Das mache ich morgen früh, ok.“ „Deine Entscheidung.“ „Ja, so ist es, Nacht.“ Ich falle sehr schnell in den Schlaf. Fast vier Minuten Stille. „Ich sage nur Müllabfuhr.“ Klar, war ja logisch, dass das jetzt folgt. „Hältst du mich für unfähig, einen Koffer für vier Tage zu packen?“ „Ich dachte, wir bleiben eine Woche?“ Mist, sie hat Recht, wir bleiben eine Woche. Wir hatten geplant, noch weitere Tage im Camp oder in der Umgebung zu verbringen, mit Internet natürlich. „Stimmt, wo ist der Unterschied, die zwei Tage machen es nicht fett.“ „Ich wollte es ja nur gesagt haben.“ Mein Kopf pulsiert. Verdammt. „Du hättest doch nur einige Unterhosen und T-Shirts in den Koffer werfen müssen.“ „Das letzte Mal habe ich das gemacht, und wer hat sich beschwert, weil dies oder das fehlt?“ „Schon gut, schon gut.“ Das blöde Pflaster nervt mich jetzt schon. „Nacht.“ „Nacht Schatz.“ Camping „Klar, der ist ja nicht so doof wie wir und lebt ohne Internet“, Zoe Clain Blendendes Sonnenlicht überflutet meine Augen, als ich mich in Richtung Fenster drehe. Die Sonne strahlt durch die dünnen Gardinen in mein Gesicht. Enna schläft von mir abgewandt. Sie hat ihre Bettdecke abgestrampelt, da fällt mein Blick auf ihre Hüften. Vorsichtig beuge ich mich über sie, während meine Hand versucht, an ihre Brüste zu gelangen. „Das kannst du mal schnell wieder vergessen“, mault sie mich an und zieht die Decke über ihren tollen Körper. Schade, sie war noch nie für Sex am Morgen zu begeistern. „Alleine schon wegen des Mundgeruchs“, sagt sie. „Pack lieber deinen Koffer“, nuschelt sie. „Ja, Mami“, antworte ich etwas genervt. Gegen 10 Uhr treffen Dirk und Frank ein. „Na, was sagen eure Kinder zum Camping?“, will Frank wissen. „Sie freuen sich mehr oder weniger“, antworte ich. „Habt ihr mit ihnen auch über die Internetzeiten gesprochen?“ Enna und ich antworten fast zeitgleich mit „Nein“. „Und ihr?“ „Wir auch nicht, lassen wir es doch einfach auf uns zukommen.“ Die Kinder entscheiden sich, im nagelneuen Mercedes von Frank und Dirk mitzufahren – ein Marco Polo Horizon. Wir haben nichts dagegen, die Kinder mal für zwei Stunden los zu sein. Die Fahrt verläuft erstaunlicherweise ohne nennenswerte Zwischenfälle. 13:45 Uhr: Am Campingplatz werden wir alle von Buster, dem Bruder meiner Frau, begrüßt. Er hat ein Lagerfeuer vorbereitet. Die Häuser stehen in einem Kreis um diese große Feuerstätte, so wie man es aus alten Western kennt. Nachdem wir uns alle begrüßt haben, machen wir Männer uns auf, die Lage zu inspizieren. Buster erzählt, dass hier weit über zwanzig Tiny Houses gebaut werden. Hier gibt es alles: einen Nationalpark, einige Seen, Geschäfte, Restaurants. „Die Lage ist perfekt, eine gute Investition“, bemerkt Dirk. Zoe ist die Erste, die sich über den miesen Empfang beschwert. „Mama, hier ist es voll scheiße“, mault sie los. „Warum, was ist?“ „Kein Internet!!!“ „Das ist...“ „Hört bitte alle mal zu“, ruft Buster. Buster klettert auf eines der Häuser und spricht zu uns. „Hallo und herzlich willkommen in meinem Digital-Detox-Camp-Limburg.“ „Das glaube ich nicht“, schreit Zoe los; sie hatte vor allen anderen den Sinn der Wörter erkannt. Buster blickt in Mias Richtung und fährt fort: „Ihr habt zweimal am Tag für 15 Minuten Internet.“ Die Mädchen, allen voran Zoe, buhen und beschweren sich lauthals. „Also, um 12:00 Uhr und um 20:00 Uhr gibt es Internet, für, wie gesagt, 15 Minuten.“ „Und was ist heute?“ „Um 20:00 Uhr gibt es Internet.“ Ich blicke auf mein Smartphone; nichts, kein Netz. Irgendwie werde ich nervös – schon verrückt, wie abhängig wir geworden sind. „Was ist mit Horst?“, fragt Enna und blickt in Busters Richtung. „Der kommt später“, antwortet er knapp. „Klar, der ist ja nicht so doof wie wir und lebt ohne Internet“, meckert Zoe. „Barbara und Ünal kommen auch später“, ergänzt Buster. „Mama, wir müssen nach Hause“, fleht Zoe, „ich werde noch verrückt!!!“ „Du bist gerade mal 15 Minuten ohne Empfang, in sechs Stunden geht's wieder online. Lies doch ein Buch oder spiele mit deinen Geschwistern.“ Zoe stampft in Richtung Wald und mault „blablabla“. „Vielleicht ist es ein Fehler“, murmelt Enna mir zu. „Quatsch“, entgegne ich ihr. 18:00 Uhr: Nele, Anna und Mia spielen Brettspiele, während Zoe versucht, irgendwo Empfang zu finden. Wir amüsieren uns köstlich über ihr Verhalten. 19:00 Uhr: Ein Gefühl der Entspannung stellt sich bei uns ein; mir ist das Smartphone am Wochenende eh egal. Keine Anrufe mit blöden Fragen der Kunden – herrlich. Alle scheinen entspannt, bis auf Zoe, die vor sich hin meckert. 20:00 Uhr: Der Empfang ist wieder hergestellt. Bei allen bimmelt das Smartphone. Alle schauen darauf. Mich erreicht die Nachricht, dass Ünal gegen 21:00 Uhr eintreffen würde. „Ünal und Barbara kommen gegen 21:00 Uhr“, verkünde ich. Zoe hat sich etwas abseits von uns mit ihrem Smartphone positioniert und gestikuliert wie eine Verrückte. 15 Minuten später ist alles wieder vorbei, und Zoe flucht weiterhin. Gegen 21 Uhr treffen Ünal und Barbara ein; wir grillen, und bis auf Zoe haben alle viel Spaß. Wir hocken bis Mitternacht ums warme Feuer. „Wir haben 19 Grad“, und das im April, bemerkt Ünal. „Ja, das hatten wir auch früher schon“, entgegne ich. „Fällt euch auch auf, wie ruhig es hier ist? Alles scheint so entspannt“, flüstert Barbara. Wir grinsen alle. Später am Abend, weit nach Mitternacht, lagen wir endlich im Bett; die Kinder schliefen schon tief und fest. Für meine Frau war dies jedoch kein Grund, die Gelegenheit für Intimität zu nutzen. Sie hatte Redebedarf und davon jede Menge. Ich wollte nur schlafen und diesen Tag hinter mich bringen. Wie meine Frau nicht anders erwartet hatte, hatte ich vergessen, meine Tasche ins Auto zu packen. Sie steht triumphierend und frisch gewaschen vor mir. „Na Schatz, haben wir nicht was vergessen?“ Als wäre ich ein beklopptes Kleinkind. „Na du Dummerchen, schon wieder deinen Schnuller vergessen?“ Zum Glück befand sich in der Kulturtasche meiner Frau eine Reservezahnbürste und Seife ist Seife. Sie lieh mir eine ihrer Hotpants und ein Glitzershirt. Wir liegen also im Bett; es ist bequem. Ich bin nicht der Proficamper und kann nur mit meinem Bett von zuhause vergleichen, dagegen ist es einfach nur ein Bett. Enna hatte ihr Kissen von zu Hause aus unserem Ehebett mitgebracht. Ich richtete mir mein Kissen irgendwie zurecht. „Nacht Schatz“, sage ich. „Hä, kein Küsschen?“ Hatten wir doch schon, oder? Ich drehte mich zu ihr und gab ihr einen Kuss. „Hab dich lieb.“ „Ich dich auch, noch Händchen halten?“ Sie sah mich mit ihren großen Rehaugen an. Wir halten Händchen. „Früher haben wir das jeden Abend gemacht“, flüstert meine Frau. Da hatten wir aber auch viel öfter Sex. Heute bin ich nach dem Sex immer müde und möchte schlafen; meine Frau will immer noch kuscheln, und das, ohne dass wir Sex hatten. „Was für ein Tag“, sagt sie. Ich schweige in der Hoffnung, sie schläft ein. Aber so schlecht, wie meine Frau morgens aus ihrem Bett kommt, so schlecht schläft sie abends ein. „Was meinst du? Die Fahrt hierhin war doch ok.“ „Ja, ich bin mir nicht sicher, was Zoe die nächsten Tage alles veranstalten wird.“ „Vielleicht gefällt es ihr, und sie fügt sich“, antworte ich. Irgendwie sind wir dann doch schnell eingeschlafen. Eine Bootsfahrt die ist… „Nennt mich Captain, oh Captain.“ Ünal Wenige Stunden später rasselte mein Wecker; es war 5:30 Uhr. „Verdammt.“ Vorsichtig kletterte ich über meine Frau aus dem Bett, zog mir die Klamotten von gestern an, wusch mich und ging hinaus. Draußen stand ich auf vergilbtem Unkraut. Insekten summten, die Vögel trällerten, und die niedrig stehende Sonne leuchtete schon hell am Himmel. Ich konnte die bevorstehende Wärme schon fühlen. Dirk und Frank kamen vom Fluss her auf mich zu. „Moin“, begrüßte ich die beiden. „Moin, wir haben schon alles vorbereitet“, erzählte Frank etwas verlegen. Haben die etwa einen Naturquickie gehabt? „Schon klar“, antwortete ich mit einem Grinsen. Ich erntete nur fragende Blicke von den beiden. Ünal trat hinzu: „Moin, haben wir schon Kaffee?“ „Ja, unten am Boot“, antwortete Dirk und deutete mit seiner Hand in Richtung Fluss. „Was ist mit Horst?“ „Der hat sich per SMS abgemeldet“, antworteten Frank und Dirk im Chor. „Wer macht denn sowas?“ warf Ünal ein. „Er muss seine Tamara in Aachen abholen“, erklärte Dirk. „Ich meine, wer schreibt heutzutage noch SMS?“ unterbrach Ünal ihn. Wir gingen hinunter zum Boot; es war groß, also ungefähr 9 Meter lang, und leuchtend grün. In gelber Schrift prangte „Holly Shit“ auf beiden Seiten – wie passend für einen Drogendealer. Ich: „Wo ist Buster eigentlich?“ Dirk: „Der ist nicht mehr da.“ Ich: „Und jetzt?“ Frank: „Was meinst du?“ Ich: „Das Boot wirkt nicht echt.“ Ünal: „Du spinnst doch.“ Das Boot lag auf dem dafür vorgesehenen Anhänger. Ich lief einmal rundherum; auf der zum Wasser gerichteten Seite wehte ein Werbebanner sanft im Wind: „Digital-Detox-Camp-Limburg“ „Ich habe noch nie ein Boot zu Wasser gelassen“, erzählte ich. „Jungs, beruhigt euch, ich mach das schon“, gab Ünal sich selbstsicher. „Wie, du?“ Ich warf ihm einen fragenden Blick zu. Ünals räumliches Sehvermögen liegt bei null. Er stemmte die Hände in die Hüften und verkündete stolz, dass er den Bootschein gemacht hat. Wir alle waren überrascht: „Alter, das ist ja der Hammer!“ Der kleine hässliche Vogel grinste zufrieden; schön für ihn. „Nennt mich Captain, oh Captain.“ Ünal meinte, das sei nicht so schwer; er kümmert sich. „Ich hole meinen SUV“, mit diesen Worten verschwand er in Richtung Parkplatz. Ich sah mir das Boot genauer an; auf irgendeine Art wirkte es nicht echt. Ich habe kein Boot, aber ich erkenne, wenn etwas eine Attrappe ist. Und dieses Teil diente nur der Werbung, dessen war ich mir sicher. Ich klopfte mit meiner Faust gegen den Schiffsrumpf; es klang hohl. „Hey Jungs, das Schiff ist kein Schiff“, während ich weiter mit meinen Händen hämmerte, musterten Dirk und Frank mich belustigt. „Natürlich ist es hohl“, meinte Frank. „Sonst könnte es nicht schwimmen“, ergänzte Dirk. Der kleine Klugscheißer. „Nein, im Ernst, das muss irgendein Hartschaum sein.“ Nach etwas über 20 Minuten hatte Ünal es geschafft, seinen SUV vor den Anhänger zu parken. Dirk und Frank befestigten den Hänger an Ünals Wagen. Ünal fuhr rückwärts zur Slipanlage, der Einlassstelle für Boote. Dirk und Frank gaben Handzeichen, und Ünal manövrierte das Gefährt in Richtung Wasser. Ich musste pinkeln und beobachtete das Geschehen von einem Baum aus. Ünal parkte das Gespann, sodass der Hänger gut zehn Meter vom Wasser entfernt stand. Er stieg aus, zog eine Kapitänsmütze auf und drehte sich um seine eigene Achse – wie ein Zirkusstar in der Manege. Genau in diesem Moment fuhr sein Wagen los und steuerte mit Hänger und Boot aufs Wasser zu. Dirk fuchtelte wild mit den Armen, Frank sprang mit einem Hechtsprung über die Kaimauer ins Wasser. Ünal klammerte sich an die offenstehende Fahrertür und versuchte, etwas unbeholfen, ins Innere zu gelangen. Ich schüttelte „meinen Prinzen“ so gut ich konnte und lief los. Irgendwie gelang es Ünal, den Wagen zum Stehen zu bringen. Ich jubelte, Ünal jubelte, und ja, auch Dirk jubelte. Nur Frank jubelte nicht. Er schrie: „Der Hänger ist zu weit im Wasser, der Hänger ist zu weit…“ Und das Drama nahm seinen Lauf. Am nächsten Tag stand im Polizeipresseportal folgender Bericht: Am 14.04.2018 wurde der Polizei in Limburg gegen 7:30 Uhr von einigen Zeugen mitgeteilt, dass an der Slipanlage in Höhe des Kasteel Geijsteren ein selbstgebautes Styroporboot beim Zuwasserlassen sinken würde. Beim Eintreffen der Beamten vor Ort wurde festgestellt, dass ein deutscher SUV-Fahrer mit einem Anhänger der Marke Eigenbau versuchte, ein darauf befindliches Styroporboot ins Wasser zu lassen. Der Anhänger mit dem Boot wurde mit dem SUV rückwärts bis ins Wasser manövriert. Während dieses Manövers sprang der vermutlich unter Drogeneinfluss stehende Fahrer aus seinem SUV und tanzte auf der Stelle. Seine drei Freunde jubelten und beklatschten diese waghalsige Aktion. Nachdem der offensichtlich berauschte Fahrer wieder in seinen SUV gesprungen war, versank der Hänger im Wasser. Die Strömung erfasste den Anhänger und drückte diesen nach unten und zur Seite. Das SUV wurde an den Rand der Kaimauer gehoben, wo es schließlich manövrierunfähig liegen blieb. Das Styroporboot konnte bereits vor Eintreffen der Polizei gesichert werden. SUV und Anhänger mussten mit einem Autokran geborgen werden, was etwa fünf Stunden dauerte. Zu Beeinträchtigungen des Schiffsverkehrs kam es nicht, und das SUV wurde nicht beschädigt. Bei den vier Deutschen wurde eine Blutprobe angeordnet. An diesem Tag wurde nicht mehr geangelt. Man wird doch wohl noch was sagen dürfen?!? „Na, schmeckt es?“ Tamara Gegen 15:00 Uhr trafen Horst und Tamara ein; Dirk hatte Horst darüber informiert, was sich am Morgen zugetragen hatte. Deshalb hatten die beiden, was das Essen angeht, vorgesorgt. Sie kochten traditionelles Gulasch mit Nudeln. Enna und ich zauberten den Nachtisch – es gab Crème Brûlée. Ünal und Barbara spendierten den Wein, Frank und Dirk die Vorspeise. Gegen Abend machten wir uns alle über die Vorspeise her. Nach einer kurzen Pause gab es die Nudeln und das Gulasch. Es duftete himmlisch, doch ein Blick in die Schüssel verriet mir, dass die Nudeln nicht so waren, wie sie sein sollten. Sekunden später gab es die Bestätigung: Sie waren Matsch, lagen wie Glibber im Mund. Wenn ich eins neben vielen Dingen hasse, dann glibberige Nudeln. Mein Blick wanderte durch die Runde. Alle dachten das Gleiche, doch niemand traute sich, etwas zu sagen. Horst verzog angewidert sein Gesicht, dennoch warf er mir einen flehenden Blick zu, der mir sagen sollte: „Bitte, halt die Klappe!“ Der linke Fuß meiner Frau stieß mich an, was bedeutete: „Lass es!“ Ich hätte es auch als Aufforderung verstehen können, wie „Sag doch was.“ Alle aßen angespannt. Aus dem Nichts ertönte Tamaras Stimme: „Na, schmeckt es?“ Die anderen (auch meine Frau) überschlugen sich mit Lob. „Alles bestens!“ „Eine Wucht!“ „Das ist so lecker, es ist ein Gedicht!“ Tamara nahm einen Schluck Wein, während sie mit ihrem Stuhl kippelte. Sie sah mich an: „Und was sagst du zum Essen?“ Was sollte ich sagen? Was durfte ich sagen? Noch während ich darüber nachdachte, platzte es schon aus mir heraus: „Das Fleisch ist auf den Punkt, es ist umwerfend. Die Soße, der Hammer.“ Tamara lächelte zufrieden, im selben Augenblick kam „Die Nudeln sind Matsch“ über meine Lippen. Und schon ging es los: Ich erntete von „Du hast nicht das Recht, so etwas zu sagen“ über „Das gehört sich nicht“ bis „Du darfst den Koch nicht beleidigen“ so ziemlich jeden Widerspruch. Mir reichte es, ich sprang auf und beugte mich über den Tisch. „Was habt ihr für ein Problem? Sie hat gefragt, ich habe geantwortet.“ Mein Blick wanderte erneut durch die Runde. „Was bin ich für ein Freund, der es in solch einer Situation mit der Wahrheit nicht so genau nimmt? Und ganz ehrlich, was sagt das über euch aus, dass ich euch nicht traut, das zu sagen?“ Ich war echt sauer. Bevor noch jemand etwas erwidern konnte, meldete sich Tamara zu Wort: „Du hast Recht, die Nudeln sind Matsch. Leider hatte ich keine mehr, sonst hätte ich neue gekocht!“ Bäm, das hatte gesessen! Bis auf Tamara kennen wir uns alle eine halbe Ewigkeit. Ich sehe es als meine Pflicht und Schuldigkeit, meine Freunde nicht zu belügen. Nun, der Abend war gelaufen. Mich plagte dieses Gefühl, wieder mal der Buhmann zu sein. Gegen 1:00 Uhr lagen wir im Bett. Endlich schlafen – ich war nun schon 19 Stunden auf den Beinen. Doch an Schlafen war nicht zu denken, Enna legte sofort los. „Du warst so still.“ „Schatz, ich bin einfach nur müde.“ „Ja klar, du bist immer müde.“ Das klang doch nach Sex. „Magst du eine Runde Sexen?“ „Willst du mich verarschen?“ „Vor Sekunden warst du noch sooo müde.“ „Bin ich auch, aber wenn ich mit der tollsten Frau der Welt schlafen kann, bin ich wieder fit.“ Ich grinste. Sie verdrehte ihre schönen grünen Augen. „Jetzt im Ernst, was war los?“ „Ich frage mich, ob ich meinen Mund hätte halten sollen.“ „Warum?“ „Na, alle waren wieder gegen mich.“ „Ja, weil du eben der bist, der du bist.“ „Wie meinst du das?“ „Die meisten unserer Freunde, Verwandten oder Bekannten schätzen diese Eigenschaft an dir.“ „Klar.“ Schmollte ich. „Es gibt nur wenige Menschen, die den Mut haben, das zu sagen, was gesagt werden muss.“ Eigentlich hatte sie recht. Vor Monaten waren wir im Kino. Ich hatte die Karten reserviert; wir sitzen immer Mitte, Mitte in einer Reihe. Leider wurde der Film vom Hauptkino in ein kleineres verlegt. An der Kasse übergab mir der Verkäufer die Karten. Ehe man sich versah, saßen wir nicht mehr zusammen – zwei saßen vorn, einer hinten, der Rest war ebenfalls verteilt. Kino ist für mich ein Happening, das ich mit Freunden zusammen genießen möchte. Also will ich auch zusammen sitzen. Ich beschwerte mich umgehend bei dem Verkäufer; der wollte nicht einlenken, und ich bestand darauf, den Manager zu sprechen. Ich war wieder mal der Einzige, der sich beschwerte. Die Anderen: „Nicht so schlimm, ich setze mich eben alleine“, oder „Wir können ja nachher noch über den Film lästern.“ „Nein, verdammt, ich habe die Karten so bestellt, ich will so sitzen.“ Der Geschäftsleiter sah das genauso wie ich und änderte die Sitze wie bestellt. Liebe Leser, dieses Buch endet hier und jetzt. Mir ist klar, dass das Ende, wie in vielen Filmen oder Büchern, nicht für jeden befriedigend ist. Ich hatte eigentlich vor, die Geschichte um Zoe weiterzuerzählen und von Ünal zu berichten, der hier auf dem Campingplatz seine Barbara schwängert. Oder wie es mit Horst und Tamara weitergeht. Nele macht nächste Woche ihre Führerscheinprüfung, und über Buster gibt es auch noch einiges zu berichten. Falls Ihnen dieses Buch gefallen hat, werden Sie die Fortsetzung lieben… Abschließen möchte ich mit einem Zitat von Georg Christoph Lichtenberg (1742-99) „Was hilft aller Sonnenaufgang, wenn wir nicht aufstehen?“
ÜBER DEN AUTOR
Seine Comedy-Karriere startete Udo Wolff nicht etwa auf Kleinkunstbühnen oder anderen Brettern der großen Welt. Nein, Udo legte vor Betonbauern, Maurern und anderen Handwerkern groß los. Wie? Der Maurermeister gab Seminare für Bauunternehmen.
Nachdem er von seinen Zuschauern immer wieder zu hören bekam, ein „ziemlich komischer Mensch“ zu sein, konnte dieses Talent den Comedy-Bühnen nicht länger vorenthalten werden. Udo wagte den Sprung im März 2013, und wir können uns freuen. Denn seitdem ist er mit seinen Geschichten in Mixed Shows in ganz Deutschland zu erleben
Seitdem spielt er regelmäßig in Mixed Shows und ist gern gesehener Bühnengast beim Quatsch Comedy Club. Die Familienvaterstories seines ersten Soloprogramms „Geliebt, gehasst, geplagt, genervt“ greift er nun in einer Buchserie auf.